Von München aus in südöstlicher Richtung der alten Salzstraße folgend, gelangt man nach etwa anderthalb Stunden Fahrzeit kurz vor Salzburg in das Chiemgau, eine der lieblichsten und ältesten Kulturlandschaften Bayerns. Den Chiemsee sehen wir nicht. Wir steigen in Traunstein um. Die alte kunstreiche Stadt mit ihrem besonderen architektonischen Gesicht zwischen Ober- und Unterstadt bleibt abseits vom Weg. Sie war die Kindheitsheimat des österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard. Wir reisen weiter nach Traunreuth.
Giftgas, Bessarabien und Russlanddeutsche.
So alt Traunstein und die umliegenden Gemeinden sind, so jung ist Traunreuth. Die Stadt ist aus den Bunkern und Magazinhäusern der Heeresmunitionsanstalt Muna St. Georgen erwachsen. Im zweiten Weltkrieg wurde hier Giftgas abgefüllt. Nach Kriegsende wurde hier eine Siedlung für Flüchtlinge aus den deutschsprachigen Landschaften Osteuropas, speziell aus Bessarabien gegründet; neue Industrien siedelten sich an, 1950 wurde die Gemeinde offiziell gegründet, 1960 wurden ihr die Stadtrechte verliehen. Noch Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre siedeln zahlreiche Russlanddeutsche in Traunreuth.
Das K1.
Als kleine Stadt von etwa zwanzigtausend Einwohnern erfüllte sich Traunreuth mutig den Wunsch nach ihrem eigenen Kulturzentrum, das zugleich zum zentralen Veranstaltungsraum des gesamten Chiemgaus taugen sollte. Anfang der achtziger Jahre entstanden die ersten Pläne. Immer wieder wurden sie aus finanziellen Gründen verworfen. 2007 beschloss der Stadtrat den Bau. 2008 wurde der Grundstein zu dem Bau in kubischer Form mit großem Veranstaltungssaal und Restauration gelegt, der am 15. Januar 2010 eröffnet wurde. Er erhält den Namen K1. Das Theater an der Ruhr gehört zu den Gästen der ersten Spielzeit.
Neben der städtischen Trägerschaft beeindruckt die Liste der Sponsoren. Die Wirtschaft der Stadt identifiziert sich in hohem Maße mit den kulturellen Bedürfnissen ihrer Bürger. Derartigen politischen und wirtschaftlichen Mut zeigen heutzutage vor allem kleine Gemeinden. Der Hansestadt Hamburg wünschte man in diesen Tagen eine vergleichbare Politik und vergleichbaren Bürgersinn.
Das Modell des Kubusbaus als archtektonisch ökonomischte Form für den Bühnenbau beginnt übrigens Schule zu machen. In Luxemburg spielten wir in einem vergleichbaren Bau – mit ähnlichem Namen.
Unserer sehr gut besuchten Vorstellung der Dreigroschenoper wird begeistert applaudiert. Allerdings hatten wir zunächst um die Gunst eines wachsamen, aber reservierten Publikums zu ringen, die spezielle Theatersprache des Theaters an der Ruhr wird auf das erste mal zunächst als fremd empfunden.
Auf die Dörfer.
Untergebracht sind wir in verschiedenen umliegenden Gemeinden, die meisten der Schauspieler in Traunwalchen, heute ein Teil der Gemeinde Traunreuth. Eine Kirche auf Berg. Fast ringsum auch unter dem schweren Wolkenhimmel der Blick auf bereits beschneite Berge. Der Maibaum. Die Schule. Der Gasthof Springer, in dem wir untergebracht sind, ist ein bayrisches Wirtshaus der alten Art. Nahe bei liegt das Wasserschloss Pertenstein aus dem 13. Jahrhundert. Der Komponist Carl Orff ist dem Ort verbunden. Über einer ausgebauten Remise des Schlosses findet sich die Aufschrift „Orff-Festspielhaus in Spe“. Eine Plakette am Eingang des Gasthofs Springer erinnert an ihn. Das Orrfsche Schulwerk wurde in Traunwalchen wohl besonders gepflegt. Das Schulwerk, sein Weihnachtsspiel, Die Kluge… ist das tatsächlich schon in Vergessenheit geraten?
Bayrischer Kulturdrang
Nichts ungewöhnliches wäre es übrigens für eine bayrische Gemeinde, wenn sie tatsächlich ihr Orff-Festspielhaus realisierte. Mit dem Stolz auf die kulturellen Traditionen gibt es in Bayern und besonders im Chiemgau auch einen Stolz auf die das aktuelle Kulturgeschehen. Fast jedes Dorf hat hier seine Theatertruppe. Eine nahe gelegene Gemeinde hat sogar ein eigenes Filmfestival, die Filmtage Waging.
Nachts um gegen vier erwachen einige von uns durch Gewehrschüsse. Eine Hochzeit steht an. Die Schützen des Ortes gehen am frühen Morgen zwischen drei und vier Uhr zunächst zum Haus der Braut und wecken sie durch Salutschüsse. Sie werden mit Weißwürsten und einer ersten Halbe Bier empfangen. Gegen fünf wird dann ebenfalls der Bräutigam geweckt und ein weiteres Frühstück dieser Art wiederholt. So geht es in den Freudentag, an dem die ganze Gemeinde teilnimmt. Vor der Kirche ist ein Treppentribüne aufgebaut – für Erinnerungsphotos, auf denen ein ganzes Dorf Platz hat.