Reisen mit den Stücken Eduardo de Filippos.
Die Stücke Eduardo de Filippos gelten als Volkstheater. Wir reisen mit seinen Stücken Diese Gespenster, Verrückt und Die Kunst der Komödie durch den deutschen Sprachraum. Wir reisen also als Volkstheater, allerdings mit einem etwas ungewöhnlichen Volkstheater. Was ist eigentlich Volkstheater? Tausend Möglichkeiten gibt es da. Aber gibt es die wirklich? Gibt es überhaupt Volkstheater?
Es gibt vor allem einige fatale Vorurteile darüber, was Volkstheater ist und was es zu sein hat. Bei uns in Deutschland muss das Volkstheater vor allem volkstümlich sein. In der Bundesrepublik seit 1945 ist das Volkstheater durchaus nicht nur zum Lachen da! Es ist das Sprachrohr der mittelständischen Vox Populi, des Spießers eigentliches Wunderhorn. Grundlage seiner Geschichten ist immer eine Gegenwart, wie sie laut seiner Meinung eigentlich sein sollte; eine Welt, in der das Wünschen noch immer sofort geholfen hat. Der Konflikt ist ebenso kurzweilig wie kurzfristig lösbar. Wir kennen die Lösung natürlich bereits, nur die Schauspieler hinken noch etwas hinterher. Ganz köstlich! Wir können dem Kasperl zubrüllen, dass das Krokodil hinter ihm steht. Das Schicksal klärt sich auf wie das Wetter. Deutsches Volkstheater ist kein Theater, das Wirklichkeit aufklären, sondern eher die Realitäten in einen Dornröschenschlaf singen will. Es bietet einfach mal einen schönen Abend, zwei Stunden Erholung von der Wirklichkeit, ein virtuelles Glück, verbracht in einer Welt, in der man ja von vornherein recht hatte. Es wird bevölkert von Menschen die einem ausnahmslos so recht aus der Seele sprechen, was immer sie sagen. Dieses Theater sieht man meist nicht auf der Bühne. Man sieht es in der Regel im Fernsehen.
Bertolt Brecht sagte: Das Volk ist nicht tümlich. Ist diese Volkstümlichkeit nicht ein schlimmer Schwindel? Wäre denn der ein Volkstheaterautor, wäre denn das ein Volkstheater, der oder das alles einmal ganz und gar anders machte? Gibt es ein Volkstheater, dem das reale Problem zu Grunde liegt, das Problem, das wirklich das Fakt und Sache ist; ein Volkstheater, in dem sich der Vorhang über eben den Tatsachen öffnet, vor denen man nicht nur im Theater lieber die Augen verschlossen hätte? Ein Volkstheater, in dem die Geschichten ebenso wenig gut ausgeht wie sie anfingen und wie sie ausgeführt wurden, ein Volkstheater mit der Komik der Vergeblichkeit und den Heldentaten aussichtsloser Kämpfe? Könnte nicht das ein anderes Volkstheater sein, das die Zeitung aufschlägt und auf der Suche nach den Helden ohne Namen die Geschichten auf der letzten Seite und der Rubrik Aus aller Welt unter die Lupe nimmt? Gibt es ein Volkstheater, in dem wir nicht über Putzigkeit und Drolligkeiten lacht, die wir an uns selbst so lieb gewonnen haben? Gibt es ein Volkstheater, das seinen Witz dem Nachdenken über den wirklichen Verlauf des Lebens in einer wirklichen Welt verdankt? Ist das ein Volkstheater, in dem man unvermutet nachdenkt? Und ist es dann noch ein Volkstheater geblieben ist? Ins Fernsehen schafft es so etwas hierzulande eher nicht. Man sieht es gelegentlich auf der Bühne.
Eduardo
Eduardo de Filippo stammte aus Neapel. Hierzulande ist sein Name eher unbekannt. Als er aber 1981 in seiner Heimat Italien die höchste Auszeichnung des Staates empfängt, schreiben die Zeitungen nicht, Eduardo de Filippo habe diese Auszeichnung erhalten. Sie schreiben einfach Eduardo Senator auf Lebenszeit. Jeder Italiener wusste sofort, wer gemeint war.
Vor Gericht.
Anlässlich dieser Auszeichnung wird der Autor zahlloser Theaterstücke von einem Journalisten gefragt, woher ihm dieser Reichtum an Stoffen und Figuren eigne, wie er denn auf seine Geschichten käme, woher er denn seine Anregungen bezöge, was die Quelle seiner nie versiegenden schöpferischen Kraft sei? Eduardo de Filippo antwortet, er sei kein großer Leser und verbrächte wohl die meiste Zeit im Theater. Habe er dennoch einmal einige freie Stunden, so besuche er fast immer die Strafprozesse des Volksgerichtes von Neapel. Nicht etwa die sensationellen Prozesse sähe er sich an, sondern die alltäglichen Aburteilungen von Einbruch, Diebstahl, Trickbetrug, Heiratsschwindel oder bewaffnetem Überfall. Was er dort an Mut, Einfallsreichtum, Witz, List und überraschender Finte, aber auch an Bosheit, Schlauheit, Grausamkeit und Kälte erlebt habe, welchen aufopfernden Heldenmut und welche Größe die kleinen Leute von Neapel im Kampf um ihr Leben und Überleben dort an den Tag legten, das seien die größten ihm bekannten Beispiele von Tragödie und Komödie, hier läge die Quelle seiner Inspiration in reinster Form offen.
Ein Leben in Neapel.
Neapel ist die italienische Stadt der Künste, der Musik, des Liedes und der Poesie. Eduardo de Filippo, 1900 in Neapel geboren, hat tatsächlich ein ganzes Leben lang in Neapel wie auch im Theater verbracht. Bereits als Kind und Jugendlicher stand er auf der Bühne. Er bildete mit seinen Geschwistern den Kern seiner eigene Truppe, er schrieb, inszenierte und leitete bald sein eigenes Haus. Seine erste Ehe dauerte nur wenige Monate. Dann bat er seine Frau um Verzeihung, er könne nicht verheiratet sein. Eduardo de Filippo lebte mit dem Theater zusammen.
Die Italiener liebten ihren Eduardo als Schauspieler ebenso wie als Geschichtenerzähler. Roberto Ciulli sah diesen in ganz Italien berühmten Schauspieler noch auf der Bühne und weiß anschaulich von seiner Wirkung zu berichten. Ein kleiner, fast zarter Mann betrat die Bühne, mit einem scharf geschnittenen Gesicht, das sich kaum regte, das niemals lachte oder auch nur lächelte. Am ehesten sei er dem Stummfilmschauspieler Buster Keaton, seine Physiognomie der des Dichters Samuel Beckett vergleichbar gewesen. Der Mann, der sein Publikum zu Begeisterungstürmen hinreißen konnte, hatte eine dunkle Ausstrahlung, eine Ausstrahlung wie die von Hunger und Tod.
Seine Geschwister und er waren die illegitimen Kinder eines populären neapolitanischen Schauspielers und Theaterdirektors, der großen Eduardo Scapetta. Seine Mutter war dessen Geliebte und Garderobiere gewesen. Scapetta hat sich zeitlebens nie zu diesen Kindern bekannt. Natürlich wusste ganz Neapel trotzdem davon, und da Scapetta die Angewohnheit hatte, die Mutter Eduardos nach den Vorstellungen in seine Garderobe zu rufen, er habe soeben einen Knopf verloren, ging bei seinem Publikum die Rede, Eduardo sei das Kind eines Knopfes.
Ein Ibsen für die Armen, ein Ibsen des Gelächters.
Eduardo litt entsetzlich unter dieser Verleumdung. Es verwundert nicht, dass seine Geschichten und Stücke immer wieder den Schein der Wirklichkeit befragen und überraschend zu Tage führen, was einer scheinbar realen Geschichte als eine zweite und gar eine dritte verborgene Wahrheit und neue Geschichte zugrunde liegen kann. Dabei werden seine Fabeln um die armen Leute von Neapel zu Gleichnissen. Eduardo de Filippo legt die in den höchst individuellen kleinen Tragödien des Scheiterns und des Sterbens und die in den kleinen Siegen enthaltene Gültigkeit für uns alle frei. Er enthüllt die große Philosophie in der Erzählung des von Not und Hunger geprägten Alltags Neapels. Das Lachen über seine Pointen ist eine Befreiung, die in der Erkenntnis liegt; einer Erkenntnis, die vom Leid emanzipiert, in dem sie es anerkennt, ohne es hinter sich zu lassen, zu beschönigen oder gar zu versöhnen.
Neorealismo
Eduardo de Filippo wurde mit dieser Art zum Vater einer der bedeutendsten künstlerischen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Kino Fellinis, Rosselinis, Zefirellis und de Sicas bezogen sich auf seine Techniken und wäre ohne seine Arbeit undenkbar. Roland Barthes schrieb, der Neorealismo sei in erster Linie ein moralischer Begriff, der genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen. Eben das liegt den Stücken de Filippos zugrunde.
Das Volk ist nicht tümlich.
Wir reisen gegenwärtig mit drei Stücken de Filippos durch den deutschen Sprachraum. Diese Gespenster, Verrückt und Die Kunst der Komödie haben einen weiten Weg von Neapel bis zu uns zurückgelegt, mit uns legen sie weitere Wegstrecken zurück und stehen in unvermuteten Bezügen vor ihrem Publikum.
In Schlanders in Südtirol, wo es auch zu den finanziellen Schwerpunkten des Kulturpolitik gehört, deutschsprachiges Theater wie deutsche Literatur zu pflegen, tritt der Italiener in deutscher Übersetzung wie unvermutet vor sein italienisches und deutschsprachiges Publikum. In Landsberg am Lech in Bayern oder auch in Cuxhaven an der Nordsee, in Lübeck, aber auch in Leverkusen, Solingen und Velbert sind die Reaktionen ähnlich. De Filippo kommt unvermutet. Er überrumpelt nicht, aber er zieht dem Zuschauer den gewohnten Teppich der amüsierten Rezeption unmittelbar vor den Füßen weg und lädt ein zu einem Schritt ins Leere. Was ist das? Worum geht es da wirklich? Mit dieser Frage ist der nette Abend torpediert und plötzlich ein interessanter Abend geworden. Was wollen die? Wer sind die wirklich? Die auf der Bühne werden’s einem nur dann sagen, wenn man unmittelbar hinsieht, ohne Erwartungshaltung und wie mitten im Leben. De Filippo ist gewöhnungsbedürftig. Man muss sich an ihn gewöhnen.
Diese Stücke kommen von weit her. Sie haben die Reise gut überstanden – aber was ist das? Wie seht, wie liest man das? Wie lacht man da? Es ist, als serviere man hungrigen und wohlwollenden Essern ein unbekanntes Gericht. Man zaudert anfänglich. Man riskiert das Lachen erst einzeln. Manchmal fällt man auch unvermutet in das Lachen hinein wie man eine Treppenstufe herunter stolpert. Man spürt weit eher die Konzentration des Publikum als sein Amüsement. Beim Applaus hat es den Abend in der Regel lieben gelernt. Und das Publikum weiß überall sehr genau, dass Bertolt Brecht recht hat und das Volk keineswegs tümlich ist. Spätestens nach einer Vorstellung von Eduardo de Filippo kommt man nicht mehr darum herum.
In den guten alten Zeiten, als das Theater noch geholfen hat
Eduardo de Filippos Stücke kommen aus einer Zeit und von einem Ort, an dem niemals das Wünschen sondern höchstens das Theater geholfen hat. Ob sie in unseren Kulturlandschaften wirklich einmal ein anderes, ein neues Volkstheater werden können – das ist eine Sache nicht ihrer sondern eher unserer eigenen Zukunft. De Filippos Stücke haben das ihre dazu lange getan. Wir müssen uns noch etwas bewegen.