Madrid
Um es sofort zu bekennen – ein Besuch in Madrid ist für mich immer eine der besondersten Reisen gewesen die man nur unternehmen kann. Bei weitem nicht nur innerhalb oder außerhalb Europas übrigens – diese Stadt zu betreten, ist für mich immer wieder wie die Landung auf einem anderen Planeten mit seiner eigenen Atmosphäre; auf einem Himmelskörper allerdings, der nicht mehr als höchstens eine Handbreit über dem Boden der Meseta und dem Zentrum Spaniens zu schweben scheint. Hier gehen alle Uhren etwas anders. Kontakte, Kommunikationen und Gespräche, Küche und Restaurants, jede Straßenecke, jeder Fußgängerübergang und jeder Einblick in Gassen und Straßenfluchten bieten neue ungewohnte Perspektiven und Überraschungen. Der Reisende erfährt mit allen Sinnen, wie wenig Europa durch seine mittleren und nördlicheren Gefilde allein repräsentiert werden kann. Wir Mitteleuropäer vergessen das gerne. Nein, Europa, das ist nicht nur so wie bei uns. Es bietet uns vollkommen unbekannte Welten, aufregende Alltagskulturen und jede Menge Lernstoff, weit mehr als es die vor allem bürokratischen Neuigkeiten aus Brüssel uns glauben machen.
Ein Planet schwebt eine Handbreit über dem Boden.
Schwärmerei beiseite – aber auch so bietet Madrid eine der am wenigsten amerikanisierten, globalisierten oder nivellierten, eine der authentischten und vitalsten Stadtkulturen Europas. Madrid ist keine sehr alte Stadt, aber alle ihre geschichtlichen Zeugnisse präsentieren sich belebt und lebendig, als genutzter und geliebter Teil eines regen und besonderen Stadtlebens. Spätmittelalter und frühe Neuzeit bilden die Atmosphäre auf und um die Plaza Mayor, das neunzehnte Jahrhundert, Jugendstil und Art Deco prägen die nördlichen Stadtviertel. Die gigantische Gran Via entfaltet das Panorama einer Welt zwischen der Ära der ersten Republik und dem Art Deco der dreißiger und vierziger Jahre. Im Schatten der Paseos, um den Prado und selbst im Park von Buen Retiro spürt man die einstige Weltmacht eines Reiches, in dem die Sonne nicht unterging.
Nach dem Ende des Regimes des Caudillo veränderte die Bewegung „la Movida“ der achtziger Jahre Stadt und Land. Ganz Spanien erfand sich selbst neu. Eine veritable Prinzessin, erwachte Madrid aus ihrem von der faschistischen Lähmung erzwungenen Dornröschenschlaf. Der Jugendstilbahnhof Antocha wurde zum Palmengarten. Im Museo Reina Sofia erleben wir die ungeheure Bedeutung, die Spanien in Kunst, Literatur und Politik für die Moderne hatte auf völlig neue Art. Die große Tradition aktualisiert sich, Stadtviertel definierten und definieren sich immer wieder neu. In Huertas, um die Plaza d’Angel und das Spanische Nationaltheater wird die Erinnerung an die Dichter, Erzähler und Essayisten Spaniens besonders wach gehalten: ihre Worte, als metallene Lettern in das Trottoir eingelassen, von den unzähligen Schritten leuchtend poliert, erschließen uns Blick und Ort. Nach jeder Himmelsrichtung ist es mindestens eine Tagesreise bis zum Meer und doch findet man überall die frischesten und köstlichsten Fische.Wir wohnen im Viertel Chamberì, im Hotel HD Argüelles in der Via Valdehermoso. Es ist noch nicht heiß, ein leichter kühler Wind weht. Nur wenige Straßen sind hier nicht baumbeschattet. Straßen und Plätze leuchten im frischen Laub und den sonnengelben Blütenrispen der Jacaranda-Bäume.
Ein Herbst im Frühling.
Eingeladen von dem Festival Otoño en primavera suchen wir Spanien und Madrid in schwierigen Zeiten. Surreale Welten überlagern sich, die nicht aufeinander passen. Wie in versetzten Spiegeln oder eingerissenen Spiegelfolien brechen sich die Bilder. Aus den Fenstern des Cafés „La Mallorquina“ kann man nicht wie gewohnt in die Weite der Puerta del Sol sehen. Man sieht über die blau leuchtenden Foliendächer einer Zeltstadt. Die Demonstranten besetzen die Zentren der spanischen Städte. Die spanische Post verschandelt mit einem zitronengelben Barackenwürfel aus Blech und Glas die Plaza Mayor. Briefmarken mit Militär- und Naturmotiven werden beworben. Indische Wochen mit allen Beispielen der Tandoori Küche werden in kleinen Blechbuden gegenüber dem Teatro Valle-Inclan abgehalten. Das Festival, dessen Gäste wir sind, findet statt, aber findet in der Stadt keinen merklichen Widerhall. Nicht einmal die Plakatierung ist besonders wirkungsvoll. Das Theater, das die Stadt tatsächlich beherrscht, ist das Theater der zahllosen Bettler. Man bettelt mit kleinen Inszenierungen, oftmals in überraschenden und originellen Kostümen, Posen, Gesten und kleinen Szenen. Sehr viele Menschen betteln so.
Das Teatro de la Abadìa.
Wir spielen im Teatro de la Abadìa, ebenfalls im Viertel Chamberì gelegen. Das Haus ist eine säkularisierte Kirche, ursprünglich Teil eines groß angelegten städtischen Kinderheimes, das heute noch betrieben wird. In den schattigen Gärten um das Theater und im Ensemble der Heimbauten stehen lächelnde Märchenfiguren aus Beton zwischen Rosensträuchern und Hecken.
Die Bühne des Theaters ist in die dreifache Apsis gesetzt, eine Besonderheit des Baus ist ein sofort am Eingang in zwei getrennte Hälften gespaltener Zuschauerraum. So spielt man vor zwei verschiedenen Publika. Der Kirchenraum wurde so angelegt, um Kinder und Jugendliche scharf nach Geschlechtern trennen zu können.
José Luis Gomez, Schauspieler, Pantomime und ehemaliger Direktor des Spanischen Nationaltheaters, hat das Teatro de la Abadìa gegründet und leitet es seitdem. Dem Autor dieser Zeilen bleibt er in der Rolle des Unternehmers Ernesto Martel in Almadovars Film Zerrissene Umarmungen von 2009 unvergesslich. Dem mächtigen Mann werden Filmbeweise für die Untreue seiner Frau vorgelegt – ohne Ton. Eine weibliche Fachkraft für Lippenablesen trägt dem Tycoon mit leidenschaftsloser Stimme eine lange Reihe entsetzlicher Sätze vor, die seine Frau ihrem Liebhaber sagt – über ihn. José Luis Gomez spielt über einige lange Einstellungen den vollkommenen Zusammenbruch seiner Figur hinter der Fassade eines einzigen Blickes, einer einzigen Miene, einer einzigen Haltung in einem eingefrorenen Stupor, so, als habe dieser Mensch einen zeitfreien Raum betreten in dem er nunmehr endlos verharren wird. Der Ausdruck, den er dabei findet, ist nicht etwa der des höchsten Entsetzens, sondern ein Ausdruck höchsten Interesses an der unvermutet eingetretenen tödlichen Verletzung.
Unvermutete Gemeinsamkeiten.
José Luis Gomez sprich fließend Deutsch, er hat 1965 Schauspiel an der Schauspielschule Bochum studiert. Mit Volker Roos duzt er sich, 1969 haben beide bereits in Handkes Kaspar in Nürnberg auf der Bühne gestanden.
Das Teatro de la Abadìa ist ein Labor zur Umsetzung seiner künstlerischen Ideale. Es ist eine Theaterschule, ein Institut der Forschung und der Ausbildung von Künstlern ebenso wie ein Theaterbetrieb mit Hausproduktionen und Gastspielen. Über die Schüler der Institution hinaus gibt es kein weiteres festes Schauspielensemble, für die einzelnen Produktionen werden zusätzliche Gäste engagiert. Die fest engagierte technische Mannschaft des Hauses ist jung, begeistert und hoch qualifiziert. Wir werden ihre wie auch die Gastfreundschaft José Luis Gomez und des gesamten Hauses nicht vergessen. Ihnen allen sei hier an dieser Stelle herzlich dafür gedankt! Die desolate Lage der spanischen Haushalte wirkt sich existentiell auch auf die Arbeit des Teatro de la Abadìa aus. Die Zukunft ist ungewiss.
Das Modell Kaspar.
In Peter Handkes Stück „Kaspar“ wird das Schicksal des Findlings Kaspar Hauser, der 1812 sprachunfähig aufgefunden wurde und 1833 einem Attentat zum Opfer fiel, zum Anlass einer sprachanalytischen Meditation über die Deformation und Versklavung des Menschen allein durch das Erlernen einer Sprache.
Die Inszenierung des Theaters an der Ruhr hat Modellcharakter für die Arbeit Roberto Ciullis und unseres Ensembles. Zu ihrer Entstehungszeit in den achtziger Jahren oftmals heftig vom Publikum angefeindet, wurde sie im Lauf der Jahre zu einem der größten Erfolge des Theaters an der Ruhr. Heute genießt sie Kultstatus. Sie hat in vierundzwanzig Jahren fast die ganze Welt bereist. Die Aufführung wurde in Polen, Bosnien und Serbien, in Kasachstan, Kirgistan und Uzbekistan, im Iran und ein Jahr vor Ausbruch des zweiten Golfkrieges auch im Irak gezeigt, ebenso in Südamerika und in Schweden. Zuletzt war es im November 2009 kurz vor Ausbruch der Tunesischen Revolution in Tunis zu sehen.
„Kaspar steht“ so Roberto Ciulli, „ für die universelle Kraft der Theatersprache, die nicht nur einen Dialog mit anderen Kulturen ermöglicht, sondern diesen einzigartig macht“. Diese Aufführung gesellt der abstrakten Dichtung Handkes eine textunabhängige surreale Dichtung in der universellen Sprache des Theaters bei. Beide Dichtungen schaffen emanzipiert von einander und doch gemeinsam ein unvergleichliche Bühnenwelt.
Schwarze Erziehung, Sprache und Sprachlosigkeit der Unterdrückung.
In Roberto Ciullis findet das Stück in einem Raum außerhalb der realen Zeit statt. Kaspar, das wilde Kind, ursprünglicher Mensch in Muße, wird von der schwarzen Herren der Zivilisation entdeckt wie ein archäologisches Artefakt. Photographiert, dokumentiert wird er schließlich seiner Welt entrissen. Nun tritt er eine Reise durch eine Kindheit als Labor an. In einem Wohnzimmer, dass irgendein Wohnzimmer ist, ist das einzig bunte Möbel eine Art Laufstall – ein Würfel, der jede freie Bewegung des Kindes unmöglich macht. Nur sein vom Körper getrennter Kopf sieht daraus hervor. Und mit dem kann er nur eines: Schreien – oder eben sprechen.
Die drei schwarzen Herren beginnen ihr Erziehungswerk. Bilderbuchfiguren von Esel, Wolf und Lamm exerzieren das Urbild der schwarzen Erziehung aus den Kirchenschulen des Mittelalters. Die Struwwelpeter-Grammatik hinterlässt ihre Risse und Brüche in der Seele des Kindes. Die schwarzen Herren führen ihre Laborarbeit fort. Selbst die endgültige Entscheidung für ein Geschlecht ist Zwang. Aus dem betäubten Menschen wird eine Frau mit dem Skalpell herausoperiert. Nun werden die Erzieher scheinbar zu Freunden oder gar Partnern. In Feier, Gesellschaftsspiel, Party, in trauter Runde oder in der dröhnenden Diskothek schaffen sie den durch Sprache vollkommen determinierten Menschen, den perfekten Baustein für unsere zivilisierte Gesellschaft. Der weibliche Kaspar besteht die Prüfung. Sie ist fertig. Sie ist angepasst. Sie hat keine Möglichkeiten mehr und nur noch einen Weg vor sich: den des Systems, dem sie durch die Sprache versklavt ist.
Zivilisation der Bestien.
Der zweite Teil der Aufführung ist eine reine Erfindung des Theaters. Im Text ist sie in keiner Weise veranlagt.
Eine Zivilisation, die derartig die Sprache missbraucht, wird eines Tages die Sprache verlieren. In dieser Zukunft wird Kaspar das einzige Wesen sein, das noch über eine Sprache verfügt. Die Menschen dieser Zukunft haben sie längst verloren. Von ihrer einstigen Zivilisation ist nur Form und Reflex geblieben. Sie selbst sind schlimmer als Tiere geworden: Lemuren, Wiedergänger und Bestien. Der verrückte Kaspar und die letzten Worte seiner entrückten Sprache sind der Gegenstand einer Art Anbetung geworden. Sie sind die Heiligtümer bestialischer Wesen.
Wie eine geschmückte Mumie ist der gefesselte Kaspar als Heiligenbild ausgestellt. Eine Familie macht ihren Sonntagsausflug zum Gnadenbild – in der Hoffnung das Wunder zu erleben und einige Worte der einstmaligen Sprache zu hören. Die Form zeigt noch bürgerliche Formen, aber der Umgang miteinander ist zutiefst grausam geworden. Selbst einen Instinkt des Mitfühlens oder Rituale der Solidarität und der Schonung wie sie die Tiere kennen, gibt es nicht mehr. Die geschlechtsreife Tochter ist bloßer Besitz. Die Söhne sind die gefürchteten Konkurrenten eines Vaters, der, seinerseits ein unterdrückendes Monster, den Bewerber um die Gunst der älteren Tochter kurzerhand mit dem Knüppel erschlägt. Die Mutter ist ein in gutbürgerliche Pose erstarrtes traumatisiertes Tier. Kaspar wird nicht zu ihnen sprechen, der Ausflug mit Totschlag bleibt vom Wunder ungekrönt. Auch zum jüngsten verkrüppelten Mädchen der Familie, das ihm seine Puppe schenken wird, wird Kaspar nicht sprechen.
Allein spricht er schließlich. Aber außer einem Toten ist niemand da, ihn zu hören oder gar zu verstehen, wenn er den Bogen von Alpha nach Omega – Aale und Ölkrapfen – oder auch von Z bis A schlägt. Ziegen und Affen schlägt; sich immer wieder im Kreis drehend und keinen Ausweg mehr findend.
Gesprächsfetzen.
Nach der Premiere gibt es anlässlich eines kurzen Empfangs ebenso kurze Gespräche mit spanischen Kollegen. Das Theater an der Ruhr trifft auf seinen Reisen immer wieder auf aufkochende politische Situationen und kommt mit Dissidenten und Aktivisten schnell in Diskussion und Austausch. In Tunis kam es zu leidenschaftlichen Gesprächen mit zahllosen Menschen, die bald darauf die Revolution verwirklichen sollten. Hier und heute in Madrid kommt es nicht zum Kontakt mit der Bewegung.
Die Kollegen erzählen wenig. Wie alle fortschrittlichen Spanier stehen auch sie hinter der Volksbewegung, die die Plätze der Städte besetzt hält. Nein, sie sehen auch bei der kommenden Wahl keine echten Alternativen zu der jetzigen Misere und keinen Ausweg aus der Misere, den eine andere Regierung im Gegensatz zur der Jetzigen verwirklichen könnte. Ihre Bewegung sehen sie als eine Revolution, aber eine friedliche Revolution, die die verschiedensten Interessen und Engagements im Geist des voreinander und des für einander geforderten Respekts vereinigt. Anarchosyndikalistische Prinzipien werden diskutiert. Man erwartet die wichtigsten Veränderungen vom Engagement der Bürger selbst; nicht im Land, nicht einmal in der ganzen Stadt übrigens, sondern in den Stadtteilen. Ein Graswurzelrevolution hat ihr friedliches Wachstum begonnen. Toma la plaza! Wir haben die Zeltstadt auf der Puerta del Sol gesehen, mehrmals durchquert und die meisten Schilder der verschiedensten Richtungen und Gruppen verstanden. Es fehlt dieser Revolution beileibe nicht an nicht an Engagement oder Elan. Es fehlt ihr, so sieht es aus, an wirklicher Utopie. Was uns aus den wenigen englischsprachigen Flugblättern verständlich wird, sieht mehr nach dem hart erarbeiteten Konsens verschiedenster Kleingruppen als nach einer zukunftsträchtigen Vision aus. Vielleicht ist das wirklich effizienter? Der Bewegung sei es von Herzen gewünscht!
Stadtdörfer der Zukunft?
Die Zeltstadt auf der Puerta del Sol lebt ihr friedliches, fast dörfliches Leben, das Polizeiaufgebot ist moderat, souverän und unangestrengt. Selbst an Christi Himmelfahrt unterbleibt die befürchtete Räumung.
Es ist hier ein wenig so, als würden postkatastrophale Siedlungskonzepte erprobt. Gemüsebeete zwischen aufgebrochenen Pflastersteinen hätten nicht überrascht. Es gibt sogar eine Bibliothek mit Lesesaal unter den blauen Planen. Für das Festival oder für momentane Kulturereignisse interessiert man sich scheinbar nicht. Es gibt nur ein englischsprachiges Flugblatt, etwas kleiner als DIN A 5. Alles andere steht nur auf Spanisch zur Verfügung. Große Runden sitzen, hören, reden und diskutieren Stunde um Stunde. Kontakt zu ihnen entsteht nicht.
Jean Genet verließ die Demonstrationen der Achtundsechziger, als er bemerkte, dass nur die Theater gestürmt wurden, nicht etwa der Flugplatz oder das Polizeipräsidium. Die in Madrid haben nicht einmal die Theater gestürmt. Oder besucht. Und letzteres zumindest ist doch eigentlich schade! Vermutlich wussten sie nicht einmal von unserem Besuch.
Das eigentliche Stadttheater.
Wie gesagt, das einzige Ereignis von Subkultur waren die zahllosen Kleintheater und Mikroinszenierungen der Bettler. Immer wieder und überall. Und, wie gesagt, einfallsreich. Gar nicht schlecht. Manche großartig. Die hätten Aphorismen von Valle-Inclan sein können…
Kontakt entsteht auch nicht zum Festival selbst. Wäre nicht die wunderbare und hilfreiche Vertreterin des Festivals, Anna, gewesen, wir hätten kaum gemerkt, dass überhaupt eines stattgefunden hatte. Ihr sei herzlich gedankt, nicht nur in unserem Namen, auch in dem des Festivals! Für mich hat es ihr Gesicht, kein anderes.
Schließlich werden wir doch noch auf einen Empfang in einer Kneipe unweit des Zentrums geladen. Es gibt Musik und Cocktails, einen Stempel auf die Hand und die entsprechenden Ermäßigungen auf die Getränke. Vom Festival treffen wir niemanden, geraten mit niemanden ins Gespräch. Der einzige Unbekannte, mit dem ich an diesem Abend kommuniziere, ist der Rausschmeißer. Er erklärt mir und auch anderen Gästen mit einem sanften Griff am Ellenbogen, dass man sich mit seinem Getränk besser nicht auf das Geländer des gegenüberliegenden Spielplatz setzt, dann führte er uns sanft dem Kneipeneingang wieder zu, einen nach dem anderen. Aber ein schöner Abend war es auch so.
Das Erlebnis ist Kunst.
Wir gehen viel ins Museum. Die Welten des Prado zu beschreiben würde den Rahmen weit ausführlicherer Berichte sprengen. Die Welten des Hieronymus Bosch, die Wunder des El Greco, das Wissen vom Menschen in den Bildern von Velasquez und Rubens, vor allem aber die Reise durch Werk und Leben Francisco Goyas, die dieses Museum ermöglicht; sein aufgeklärter Blick, der das Herz bricht – all das bleibe hier weiter unbesprochen. Wer will, fahre hin. Aus dem Leben des Autors ist dieser Eindruck nicht mehr wegzudenken. Es wäre nicht dasselbe gewesen ohne diesen Eindruck.
Besonders erwähnt sei hier ein zweites Museum Madrids, das Museo Reina Sofia. In Themenkreisen gehängte Werke, ergänzt um Filme und historische Materialien zu den Hintergründen des besonderen intellektuellen Leben Spaniens und Madrids, führen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis fast in unsere Tage – und auf eines der größten Werke Picassos zu. Das Bild Guernica ist hier nicht nur zu sehen, sondern auch zu begreifen, mit zu empfinden und zu verstehen. Das liegt nicht nur an den beigesellten Vorstudien und Filmen. Man hat es sich erwandert, durch die berühmten wie die vergessenen Räume des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Dem Autor wurde Erlebnis, was Peter Weiss in seinem Roman „Ästhetik und Widerstand“ so nachdrücklich beschrieb: das Zusammenwirken von Kunst, Utopie, Revolte und dem Ringen um ein menschenwürdiges Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die lichte Seite des dunklen zwanzigsten Jahrhunderts. Alarmiert bemerkt er, dass ihm selbst diese großen spanischen Traditionen in keiner Weise mit der auf den Plätzen erlebten Revolte in Verbindung zu bringen waren. Er hofft in diesem speziellen Punkt, in diesen wenigen Tagen nichts oder auf jeden Fall viel zu wenig verstanden zu haben.
Apropos Bettlertheater: Ramon del Valle-Inclan
Der große spanische Dramatiker und Romancier Ramon del Valle Inclan entwickelte in den zwanziger und dreißiger Jahren seine eigene, hier zu Lande weitgehend unbekannte Theatertheorie, die des „Esperpento“, der Schauerposse. Der Mensch der Antike, so begründete er seine Dramen, habe sich den Figuren seiner Werke auf den Knien genähert, er sah sie als Götter und Heroen. Der Autor des bürgerlichen Zeitalters habe sich in Augenhöhe zu seinen Figuren empfunden. Er habe sie als enge Freunde, als Verwandte oder auch als Feinde, vor allem aber als Menschen gesehen, zu denen er in echter persönlicher Beziehung stand. Der Autor der Zukunft aber, so schrieb er, stünde wie ein fliegender Raubvogel weit über der Menge der Menschen, überblicke den Irrsinn ihrer Bewegungen, Richtungswechsel und Affekte – und empfände dabei Schauder der Angst, gepaart mit großem Gelächter über all die Absurdität dieses menschlichen Alltags, seiner Absichten und seiner Utopien.
Zum Abschied Dank!
Ich ende mit Dank für wunderbare Tage an Roberto Ciulli, an José Luis Goméz und seine Mitarbeiter, an das Teatro de Abadìa und das unsichtbare Festival Otoño en primavera!
Dem Madridreisenden unter unseren Lesern sei zum Abschluss ein besonderes Restaurant empfohlen. Auf einem der stillsten und schönsten Plätze Madrids, der Plaza de la Paja, liegt das kleine Restaurant NAÏA, das mit einem Periodensystem der köstlichsten Zutaten der spanischen Küche wirbt.
Das Menu del Dia ist preiswert und vorzüglich, besonders die Fischküche ist köstlich einfallsreich. Die Terrasse auf dem wunderschönen Platz bietet unvergessliche Stunden! Albert Bork und ich waren jeden Tag da…Vielleicht lernen auch Sie eines Tages Madrid zu lieben, so wie ich und vielleicht wir alle es wieder, manche neu und manche von neuem, gelernt haben.