Die Fahrten des kasachischen Regisseurs Bolat Atabayev
Reisen ist für uns eine Form des Dialogs. Wir reisen, um Fragen zu stellen und Fragen zu beantworten. Das Reisen gehört für das Theater an der Ruhr zu den zentralen Aufgaben eines politischen Theaters.
Der kasachische Regisseur und Gründer des Theaters ‚Aksaray‘, Bolat Atabayev, ist oft zu uns gereist. Mit eindrücklichen Aufführungen wie zum Beispiel ‚Lady Milford aus Almaty‘, das er schrieb und inszenierte, konnte er das deutsche Publikum begeistern. Ebenfalls ermöglichte er uns unvergessliche Reisen, 2001 gar eine Tournee durch vier zentralasiatische Staaten. In seiner Heimatstadt Almaty., der Hauptstadt Kasachstans, dem früheren Alma Ata, zeigten wir unter anderem ‚Kaspar‘ von Peter Handke.
Aber nun ist Bolat Atabayev fast zu einem hauptberuflich Reisenden geworden. Heute reist er mit kleinem Gepäck. Wo und ob er ankommen kann, ist fraglich. Schon die Rückkehr von seiner Reise ist ein Problem, denn er trägt eine Frage durch Europa, auf die er in seiner Heimat außer Verfolgung und Gefängnis keine Antwort erhalten wird. Seine Frage ist schnell gestellt und eigentlich auch schnell zu beantworten: Am 16. Dezember 2011 wurden zwölf protestierende Arbeiter auf den Ölfeldern bei Aktau in Kasachstan durch Polizei und Militär erschossen. Wer gab den Schießbefehl?
Der Präsident Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, gilt als unberührbar. Er war zunächst Vorsitzender des Ministerrats der Kasachischen Sowjetrepublik und vom 22. Juni 1989 bis zum 28. August 1991 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik gewesen. Am 24. April 1990 wurde er durch den Obersten Sowjet Kasachstans zum Präsidenten der Sowjetrepublik gewählt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ließ sich Nasarbajew im nunmehr unabhängigen Kasachstan am 1. Dezember 1991 für zunächst fünf Jahre in seinem Amt bestätigen. Seitdem herrscht er über das Land. Bei seiner Wiederwahl 1999 erreichte er 80 Prozent, 2005 gar 91 Prozent der Stimmen. Nachdem sein Versuch scheiterte, sich für weitere 20 Jahre als Präsident bestätigen zu lassen, fanden am 3. April 2011 vorgezogene Neuwahlen statt. Nasarbajew wurde mit 95,5 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa beobachtete bei der Wahl ‚gravierende Unregelmäßigkeiten‘. Nasarbajew pflegt eine sowohl Russland wie dem Westen gegenüber kooperative Politik. Der Öl- und Rohstoffreserven seines Landes wegen hofiert ihn der Westen. Er und seine Familie genießen rechtliche Immunität vor Strafverfolgung.
Ab dem Mai 2011 beginnen Arbeiter auf den Ölfeldern um Aktau und die Stadt Schanaosen zu streiken. Etwas ähnliches wie Tariferhöhungen sind in Kasachstan unbekannt. Ihre Forderung ist nach hiesigen Maßstäben mehr als bescheiden: zumindest Mindestlöhne sollten für ihre Arbeit zur Auszahlung kommen. Bolat Atabayev besucht die Streikenden und erklärt sich mit ihren Forderungen solidarisch. Auch die nicht zugelassene Partei ‚Alga‘ des Oppositionspolitikers Wladimir Koslow solidarisiert sich. Der Streik bleibt zunächst ohne Erfolg. Am 16. Dezember 2011 werden Aufstände in der kaspischen Hauptstadt blutig niedergeschlagen. Zwölf Menschen werden erschossen, es gibt hunderte von Verletzten.
Die Kasachische Staatssicherheit KNB ermittelt – aber beileibe nicht gegen die Täter, sondern gegen die protestierenden Oppositionellen. Bolat Atabayev wird drei mal verhört. Nachdem er mit Berufung auf seine Gesundheit die 3500 Kilometer lange Reise von Almaty zum Verhör nach Aktau nicht antritt, wird er am 15. Juni 2012 in seinem Haus von drei Männer verhaftet. In Aktau wird er inhaftiert.
Im August 2012 sollte Bolat Atabayev in Weimar die Goethe-Medaille für sein künstlerisches und politisches Engagement in Weimar in Empfang nehmen. Es sah nun ganz so aus, als könne er nicht reisen. Es kam zu vehementen Protesten nicht nur vor der kasachischen Botschaft in Berlin.Der Regisseur Schlöndorff, aber auch Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, ergriffen Partei. Auch Roberto Ciulli protestierte nach Berlin und mit einem offenen Brief.
Im August entlässt man ihn aus der Haft. Bolat Atabayev nimmt den Preis in Weimar entgegen. Dann geht er auf auf Tournee. Ohne Theater, nur mit seiner einfachen Frage. In Moskau spricht er vor Oppositionellen, auf einem Freiheitsforum in San Francisco. In Brüssel sucht er Europaabgeordnete auf.
Die Süddeutsche Zeitung meldet am 16. Oktober 2012 die Verurteilung Wladimir Koslows , Gründer und Leiter der Partei ‚Alga‘, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Aufruf zum Sturz der Regierung, Gefährdung der nationalen Sicherheit und Anstiftung zu sozialem Unfrieden. Was Bolat Atabayev droht, sollte er in seine Heimat zurückkehren, ist damit klar bezeichnet. Er wird desselben angeklagt.
Aber Bolat Atabayev fährt zunächst noch nicht nach Hause. Er plant eine Reise nach Genf. Dort kann er die Frage ein weiteres mal öffentlich stellen, die der Bürger einer Zivilgesellschaft einem demokratisch gewählten Präsidenten seines Landes stellen können muss: ‚Herr Präsident, wer gab den Schießbefehl am 16. Dezember 2011?
Foto von Barbara Fraenkel-Thonet
Laudatio zur Verleihung der Goethe Medaille an Bolat Atabayev
von Helmut Schäfer, Mitbegrüner, -Leiter und Dramaturg des Theaters an der Ruhr
Lieber Herr Präsident Klaus Lehmann, verehrte Gäste, liebe Preisträger, lieber Bolat Atabayew!
Daß ich heute hier stehen darf, um das Wort an Dich und die versammelten Gäste zu richten, lieber Bolat, freut mich außerordentlich und ich möchte die Gelegenheit nicht vorbeiziehen lassen, dem Gremium, das die Entscheidung getroffen hat, Dir die Goethe-Medaille zu verleihen, meinen Respekt zu zollen.
Mit diesem Preis werden Menschen geehrt, die unter anderem über die Fähigkeit verfügen, die deutsche Kultur und ihre Sprache in anderen Ländern zu vermitteln.
Ein Vermittler bist Du und was für einer! Wir haben das mit dem Theater an der Ruhr erfahren. Der ein und andere der Zuhörer hat vielleicht vor Jahren wahrgenommen, daß wir in den späten 90er beginnend ein Projekt verfolgten, das unter dem Titel „Seidenstraße“ firmierte.
Das Theater bewegte sich mit seinen Inszenierungen entlang der alten Route der Seidenstraße und lud wiederum Theater aus diesen Ländern nach Mülheim an der Ruhr und in andere Städte der Bundesrepublik ein, um dem interessierten deutschen Publikum die Möglichkeit zu geben, die Theaterkunst und Kultur dieser Länder näher kennenzulernen.
Dieses Vorhaben zur realisierten Praxis werden zu lassen, wäre ohne die Vermittlungsfähigkeit von Bolat Atabayew so nicht möglich geworden. Wieso, mögen Sie fragen?
Es handelte sich nicht darum, wie ein Außenstehender leicht denken könnte, ausschließlich Kontakte zu der Region Zentralasiens und ihren Theatern zu knüpfen, die zumindest zu dieser Zeit noch nicht so leicht herzustellen waren, wie es heute gehen mag. Vernetzung war nicht unser erstes Ziel. Und Dir ging es ohnehin um mehr: nämlich die Substanz dessen zu vermitteln, was Du in unserer Arbeit vorgefunden hast, was Dein Blick ihr entnahm, die, wofern sie denn gelang, notwendig auch Rätsel barg.
Du hast das kaum Mögliche versucht und das können nur autonome Künstler. Einem Satz Adornos zufolge ist der Wahrheitsgehalt von Kunst als Rätsel in fensterlosen Monaden verborgen, wir sehen sie nicht und sie selbst winken uns nicht aus ihrer fremden Ferne zu.
Die Begriffe Theater und Theorie sind im Griechischen verwandt, gemeinsam ist ihnen die Anschauung, also das, worüber Du in einem hohen Maße verfügst, anschauen und wahrhaft anhören zu können. Schauen, meinte Aristoteles, führe zum Glück, die Glücklichen seien Schauende wie die Götter, von deren Existenz er denn doch nicht restlos überzeugt war.
Oft habe ich Dein Schauen – Können während unserer Proben, denen Du vor Jahren immer wieder beiwohntest, erfahren.
Anschauung stiftet jene Inhalte der Erfahrung, deren die Erkenntnis bedarf und nicht selten ist das Ergebnis gelungener Erkenntnis ambivalent.
Jetzt dürfen wir den anwesenden Gästen etwas aber nicht verschweigen, das Dein Denken und Handeln leitet: Du gehörst zu der Spezies der Initiatoren, die etwas Neues beginnt, begründet, Du bist ein Gründer, eine Eigenschaft, die zum Wesen eines Regisseurs hinzugehört. Nicht von Läden oder Firmen, das würde keiner unterstellen, sondern von Theatern und Inszenierungen. Mit gegründet hast Du das deutsche Theater in Almaty, dann Deine eigene Theatergruppe „Aksaray“ und das Theater, was wir gemeinsam planten und das auf seine Geburt immer noch wartet.
In zahllosen Gesprächen, deren Motor Du häufig warst, hatten wir die Idee geboren, ein multinationales Theater der Länder dieser Großregion zu gründen, um den aufkommenden Nationalismen nach der Befreiung von der Sowjetherrschaft einen Weg vorzuschlagen, der diesen Rückfall verhindern könnte.
Wir wußten, daß ein Theater, das sich national versteht, nichts von der Substanz seiner eigenen Kunst begriffen hat, denn deren Tierkreiszeichen kann nur der Bastard sein. Dieses multinationale Theater hätte das Prinzip des Reisens, mit dem die europäische Aufklärung anhob, zu seinem leitenden Inhalt erhoben. Aufklärung allerdings als heitere, die sich der Ambivalenz aller Wahrheit stets bewußt bleibt, der bloß zweiwertigen Logik von ‚Wahr‘ und ‚Falsch‘ den Laufpaß erteilt und den dritten Wert, ‚Nicht – Falsch‘, als Voraussetzung der conditio humana bedingungslos akzeptiert.
Daß Du heute hier sein kannst, wir waren uns vor Wochen dessen überhaupt nicht gewiß, ist für uns alle ein großes Geschenk und sicherlich die Folge einer mehrwertigen Logik.
Einer Bemerkung Marx‘ zufolge setzt Kritik Solidarität voraus. Der die Regierung Kasachstans kritisierende Bolat Atabajew war mehrfach solidarisch, den streikenden Ölarbeitern gegenüber, denen er beistand, und durch seine öffentliche Kritik dem Staat gegenüber, der auf sie schießen ließ, des Risikos, in das er sich begab, bewußt.
Und er wußte auch, daß autoritäre Strukturen eine verbissene Überlebensfähigkeit haben.
Am 29. Mai, also nicht lange vor Deiner Inhaftierung, schriebst Du uns, daß Du derzeit Bertolt Brechts „Kleinbürgerhochzeit“ inszenieren würdest. Das war sicher keine zufällige Entscheidung.
Menschen, die sich autoritärer Strukturen bedienen und darin sich wohl fühlen wie der Fisch im Wasser, sind aller Erfahrung nach Kleinbürger, dies ist längst keine soziale Schicht mehr wie noch im neunzehnten Jahrhundert, sondern eine mittlerweile geschichtsmächtig gewordene Mentalität, ein tertium comperationes der gegenwärtigen Menschheit, über alle Grenzen hinweg. Nationalismus ist dieser multinationalen Gattung selbstverständlich.
Zur Signatur des Kleinbürgers gehört zuvörderst der Stolz auf die eigene Beschränktheit. Ambivalenz, von der die Rede ist, ist ihm ein wahres Grauen, nur das Eineindeutige kann er ertragen. Verfolgt wird alles Nichtidentische, das sich dem Zugriff verweigert – und zugreifen möchte er. Alles soll gleich sein, was dem widersteht, erzeugt Angst, die nicht selten in Gewalt umschlägt. Aber nicht Gewaltlosigkeit ist das Gegenteil der Gewalt, sondern das Recht, das der Willkür den Weg versperrt. Schon die Orestie des Aischylos, nun sind wir wieder beim Theater, beschreibt den Weg von der Rache Einzelner zum souveränen Recht. Das Recht ist dem Kleinbürger grundsätzlich suspekt, er empfindet es ausschließlich als Beschränkung, zudem es der Deutung bedarf, ambivalent und nicht eindeutig ist. Das ändert sich nur, sobald er die Gelegenheit wittert, als Kläger aufzutreten. Dann Gnade uns Gott.
So wurdest Du, lieber Bolat, in Gewahrsam genommen wegen ‚Anstiftung zur sozialen Unruhe‘ und, wie Du an jenem 29. Mai schriebst, als ’Mitglied einer organisierten kriminellen Vereinigung‘. Eine Anklage auf Verdacht. Hegel analysierte den Terror zur Zeit der französischen Revolution als die ‚Herrschaft des Verdachts‘, dem Verdacht kann sich keiner erwehren, er kennt keinen Gegenbeweis. ‚Mitglied einer kriminellen Vereinigung‘! Häufig sind die Phantasien der Mächtigen absurd und geben sich der Lächerlichkeit preis, deshalb bediente sich das aufklärerische Denken gerne der Satire, Komik befreit. Die wenigen erhaltenen Satyrspiele der Antike künden schon davon.
Deine Inhaftierung führte zu Protesten in vielen Ländern, viele der Versammelten hier, vor allem das Goethe -Institut selbst, haben sich daran beteiligt.
Gegen jenes autoritätssüchtige Kleinbürgertum hast Du Dich gestemmt, auf deine Fähigkeit des Vermittelns vertrauend, um in Deiner Heimat etwas Anderes zu begründen: eine offenen Geist, der den Gestus des selbstverständlichen Gehorsams abstreift, damit, wie Du uns schriebst, Deine „Enkelkinder in einer normalen Zivilgesellschaft leben können.“
Nun sitzt Du unter uns und der Präsident des Goethe-Instituts wird Dir heute die Goethe-Medaille verleihen, was für ein Glück!
Denn: „Die Zeiten des Glücks sind die leeren Blätter der Weltgeschichte“, befand Hegel in seiner Philosophie der Geschichte.
Wir schreiben diese Blätter nun seit langem bis an die Ränder voll und mittlerweile mit einer Geschwindigkeit, der wir längst nicht mehr Herr sind.
Stattdessen sollten wir zukünftig, wie Bolat Atabajew, Theater gründen.
Herzlichen Glückwunsch!
Ein Brief von Bolat Atabayev an das Theater an der Ruhr
Liebe Kollegen! Lieber Roberto!
Es geht mir gut! Das, was Sie gelesen haben, ist nur ein Teil meines Lebens. So sind die heutigen Aussichten: zu Hause bin ich ein Verbrecher, im Ausland eine herausragende Person! Gerecht nach Gewissen zu leben ist mir lieber als gerecht nach Situationen zu existieren. Das ist meine bewusste Wahl. Ich kann nicht anders. Es kommen die Zeiten, wo man den kollektiven Gestank als Einheit des Geistes wahrnimmt. Mein Ziel ist, dass meine drei Enkelkinder in einer normalen zivilisierten Gesellschaft leben. Man wird nicht sagen: ja, ihr habt ein schweres Leben gehabt, man wird fragen, wo waren ihre Poeten. (B.Brecht)
Im Kasachischen sagt man oft: das Leben sei ein Fluss und wir schwimmen darin, aber man wird vom langen Schwimmen müde, und da bestimmt man sein Ufer und holt Atem, um Kraft zu schöpfen. Das Theater an der Ruhr war und ist ein Ufer meines Lebens! Million mal Danke dafür! Der Gerichtsprozess beginnt Mitte Juni des laufenden Jahres. Seit dem 23.Januar bin ich Angeklagter nach dem Artikel „Aufhetzung der sozialen Zwietracht“ und „Mitglied einer organisierten kriminellen Gruppe“. Das alles wegen meiner Streikunterstützung der Ölarbeiter in Westkasachstan. Die haben seit Mitte Mai bis zum 16. Dezember 2011 (sieben Monate) friedlich gestreikt. Und am 16. Dezember wurden sie von den bewaffneten Polizisten erschossen und auseinander gejagt. Dabei sind 17 gestorben und über 100 verwundet. Und bis heute weiß man nicht, wer zu schießen befohlen hat! Absurd!
Am 14. Mai habe ich mein 60. Geburtstag gefeiert. Und jetzt probe ich „Die Kleinbürgerhochzeit“ von B.Brecht.
Viele Grüße an alle Kollegen!
Nachtrag
Freunde von Bolat Atabayev unterhalten eine Facebook Seite. Sie finden Sie hier.