Ein Gespräch zwischen Rupert Seidl und Roberto Ciulli über die Dichterin Else Lasker Schüler und der Inszenierung ihres Stückes Die Wupper“ in einer Koproduktion zwischen dem Schauspielhaus Düsseldorf und dem Theater an der Ruhr in Mülheim.
…Adon, schmeißen Sie alle Bücher fort, lassen Sie uns Jahrmarkt bauen. Ich wollte es schon vorriges Mal. Erkundigte mich – Holz ganz einfaches, – Karrossell – schwer mit bunten Glasperlen behangen – Buden zum Zusammenklappen. Ich leite zuerst Karussell mit hebräischen und arabischen kindliches Volksliedern. Alle Kinder kommen von 4 – 9 Uhr abends, und sich liebende Menschen und freuen sich was. Auch Waffelbude. Was sagen Sie? Ich flieg sonst fort – was soll ich hier – da man wie eingesperrt. – Ich kann organisieren. Habe Ideeeen. Der Jahrmarkt – eine liebe reine Sache. Gott könnte kommen und sich mit den kleinen und großen Kindern freuen. So versöhnen wir zunächst das Volk Judas und des Arabers…
Else Lasker Schüler an Salman Schocken
Rupert Seidl:
Du hast in deinen Arbeiten der letzten Jahre immer wieder – weit über die Lesart des inszenierten Stückes hinaus – das Leben seines Verfassers selbst befragt, teils so intensiv, das man sagen könnte, die Arbeit am Stück sei im Grunde dein Anlass gewesen dich dem Leben des Autors selbst zu nähern. Du hast die Essenz des Autorenlebens auf die Bühne gebracht und es dabei zugleich vollkommen neu gedeutet. Du hast es der herkömmlichen Rezeption entrissen und dabei so grundsätzlich neu gesehen, dass deine jeweilige Arbeit den Gedanken an eine bloße Hommage weit hinter sich liess. Das Ergebnis war stets eine Neuschöpfung, emanzipiert von jeder biografischen Faktenlage und bedeutend reicher als ein nacherzähltes Leben. Ob es sich um Lorca, Lenz, Fassbinder oder selbst Koltès handelte, ich hatte immer wieder das Gefühl an einer Art Autorenrettung aus den Klauen seiner gymnasialen Leser und Interpreten beteiligt zu sein.
Roberto Ciulli:
Autoren sind besondere Menschen. Besonders die Autoren, bei denen man Leben und Werk nicht mehr voneinander trennen kann. Ihr kreativer Impuls war so stark, dass er alle biografischen Ressourcen, alle persönlichen Glücksmöglichkeiten des schreibenden Menschen mit der Realisierung des Werkes verbrannte. Diese Autoren verbrannten buchstäblich schreibend, wurden von ihrer Arbeit getötet oder überlebten ihr Werk nur im Elend, in der Asche ihres kreativen Prozesses. Das gilt im höchsten Maße für Else Lasker Schüler.
RS:
Du sagtest, es sei ebenso unmöglich ihr Leben zu erfassen, wie es unmöglich sei, ihr Stück Die Wupper zu inszenieren.
RC:
Else Lasker Schüler hatte den Blick eines Kindes auf die Welt. Und wie ein Kind brach sie nicht nur jede Regel des gesellschaftlichen Lebens der sogenannten Erwachsenen, man kann fast sagen dass ihr derlei Regeln vollkommen unbekannt gewesen sein müssen. Sie war, wie Lenz oder Fassbinder, eine Tabubrecherin. Sie trennte nicht zwischen ihrem privaten Bereich und ihrem öffentlichen Wirken. Der Herausforderung einer solchen Frau konnten insbesondere ihre Männer nicht standhalten. Ich ein Glas Burgunder, er eine Porzellantasse Kaffee. schrieb sie über ihren ersten Mann Berthold Lasker, den Bruder des damaligen Schachweltmeisters Emanuel Lasker und nannte ihn öffentlich verächtlich einen Schachspieler in den Dingen des Herzens. Die zornigen Briefe, die sie ihrem zweiten Mann – Georg Lewin, dem sie das Pseudonym Herwarth Walden vorgeschlagen hatte – im Trennungsprozess schrieb, veröffentlichte sie aktuell in der Tagespresse und schrieb unmittelbar darauf den Roman Mein Herz. Wie sie sich dichtend schonungslos selbst verbrauchte, fledderte sie, so muss man es sagen, ebenso die Leichen der Männer, die sie zurück liess. Zugleich liebte sie immer. Sie war immer verliebt, bis ins Alter von zweiundsiebzig Jahren. Als sie ihr Ende nahen fühlte, schrieb sie: Mit mir geht es zu Ende. Ich kann nicht mehr lieben.
RS:
Sie ging in der Öffentlichkeit auf die Nerven. Sie setzte sich ein, für alles und jeden, der ihre Hilfe zu brauchen schien, ob es sich um psychisch Kranke oder nicht anerkannte Schauspieler handelte. Sie schrieb Briefe, unter anderem an Hitler, Mussolini oder Papst Pius XII. Natürlich erhielt sie nie eine Antwort. Sie kämpfte stets für andere und nie für sich selbst. Sie hatte in keinem ihrer Feldzüge eine Chance auf Sieg. Ihr einsamer Kampf gegen alles und alle war vollkommen aussichtslos.
RC:
Die Wupper liest sich wie die Erinnerung eines alten, eines ewigen Kindes an die biografische Kindheit.
Als Kind starb sie einmal beinahe durch einen Sturz aus dem Fenster im zweiten Stock, weil sie der endlich heimkehrenden Mutter entgegen fliegen wollte. Sie hielt das in dieser Situation für ohne weiteres möglich. Sie überlebte, weil sie, eigentlich schon aus dem Fenster getreten, an einer Jalousie hängen blieb – und wurde von der Feuerwehr gerettet. Durch diesen Schock litt die kleine Else unter dem Veitstanz und konnte die Schule nicht mehr besuchen. Sie wurde schließlich zuhause unterrichtet.
Auch in ihrem Werk trennt sie nie, wie sie selbst es ebenfalls niemals tun sollte, zwischen Rationalität und Mystik, Verstand und Gefühl, politisch- gesellschaftlich analytischer Hellsicht und märchenhaft naturverbundenem Schamanismus. Sie sieht aus den Augen eines Kindes, das alles sieht, was es nicht sehen und alles sofort begreift, was es nicht verstehen soll.
Alle denken, mein Verhalten sei sexuell, schrieb sie, aber es geht viel tiefer.
Die reiche Bourgeoisie, die Kaste der Fabrikherren und ihre Familien sind in dem Stück Die Wupper mit der Klasse der Arbeiter, mit den Familien der Armen durch tiefe Bande des unerlaubt heimlichen Trieblebens, der Päderastie und allen mannigfachen Formen der Begierde, Ausbeutung und Erpressung verbunden. Die Ärmsten der Armen, die Obdachlosen, die auch die Geschlechtsgrenzen hinter sich gelassen haben – die transsexuelle lange Anna, der Exhibitionist Pendelfrederich und der gläserne Amadeus, der das Herz selbst repräsentiert – sind Gespenster, Menschen und Engel zugleich.
Die sexuelle Identifikation aller mit allen führt in den direkten Verfall aller Strukturen. Der Trieb obsiegt und führt direkt, das sieht sie lange voraus, direkt in den Stiefeltritt der Nationalsozialisten, wo jede Perversion zur Legalität wird. Sie ist Kassandra. Armageddon, der Weltuntergang, ist die Zukunft. Der Sieg des Bösen durch das Banale, die Banalität des Bösen in Figuren wie Eichmann oder Himmler, wird bereits in dem 1909 geschrieben Stück Die Wupper evident. Fünfunddreißig Jahre später war Wuppertal eine Nazihochburg. Der Sieg gehörte dem perversen Spießer. Else Lasker Schüler war ein Don Quichotte gegen diese Windmühlen des Weltuntergangs.
RS:
Sie sieht im Traum.
Im Spiel mit Knöpfen, das ihre Mutter mit ihr spielte, wurden die Knöpfe zu Wesen, zu Individualitäten. Dem schönsten, dem glänzendsten Knopf gab die Mutter den Namen Jussuf von Ägypten. Jussuf, der Josef des alten Testamentes, deutet die Träume des Pharao. Er wird zum Alter Ego ihrer Traumwelt, die sie stets untrennbar von ihrer realen Biografie lebt. Sie ist Jussuf von Ägypten, der Prinz von Theben. Ihre Freunde, Franz Marc oder Gottfried Benn sind bei Ausbruch des ersten Weltkrieges idealistisch und ahnungslos kriegsbegeistert. Viele ihrer Freunde, darunter auch Franz Marc, fallen in den Schützengräben. Der blaue Reiter ist gefallen. Sie dichtete:
Sind meine Kinder.
Alle meine Spielsachen
Liegen in ihren Gruben.
Immer spiel ich Soldaten
Mit deinen Fingern, kleine Reiter,
Bis sie umfallen.
Wie ich sie liebe
Deine Bubenhände, die zwei.
Ihre Zukunftsvisionen, treffend wie die der Kassandra oder des Joseph von Ägypten sind verstörende Märchenbilder – wie die der Apokalypse.
Wie ist es heute? Ob im muslimischen oder amerikanischen Fundamentalismus, ob im nahen Osten oder oder im Osten Deutschland formiert sich der neue Faschismus. Kommt er auch aus dem Trieb? Hat die sogenannte sexuelle Revolution, die geradewegs in die sexuelle Industrie geführt hat, zu einer sexuellen Verelendung, zu einem sexuellen Hunger geführt, der als wütend perverser Trieb sich in den neuen Exzessen von Gewalt, Homophobie, Frauendiskriminierung und Fremdenhass auslebt? Handelt es sich um triebhaft sexuelle Inszenierungen?
RC (lacht):
Gegen die unfassbaren Gräuel der Geschichte haben die Praktiken der Isis fast noch etwas Künstliches, Abstraktes. Die Geschichte hat vor gar nicht langer Zeit noch bedeutend Entsetzlicheres gesehen. Pegida und Afd dagegen werden in der öffentlichen Rezeption noch immer als etwas Politisches aufgefasst. Ein gesellschaftlicher Impuls, der mit Ökonomie und ökonomischer Gerechtigkeit zu tun hat, wird unterstellt. Aber damit hat es nichts zu tun. Diese Bewegungen sind reiner kollektiver Trieb. Aber eigentlich sexuell ist er nicht. Er ist nicht einmal menschlich. Es handelt sich um die panische Angst im Territorialverhalten der Tiere, zum Beispiel der Wölfe.
RS:
Pirandello spricht ja im Zusammenhang mit den Vorläufern der heutigen Wutbürger davon, sie hätten nichts menschliches mehr, sie hätten Wolfsaugen.
RC:
Else Lasker Schüler, die Dichterin mit dem Kinderblick, hätte heute gesagt: Aber sie reden ja gar nicht. Sie bellen. Mit den Anhängern von Afd und Pegida kann man nicht sprechen. Bestenfalls helfen die Techniken zoologischer Verhaltensforschung. Mit ihnen kann man bellen. Oder knurren. Oder beißen. Nein, ich habe keine Sorgen. Das Pendel der Geschichte wird eines Tages wieder in die andere Richtung ausschlagen. Die Welt wird nicht mit uns zu Ende sein. Das Ende der Geschichte ist noch nicht gekommen. Die Geschichte wird uns überleben. Es wird noch Geschichte stattfinden wenn wir nicht mehr da sind. Nein, ich bin optimistisch. Ich halte es mit Else Lasker Schüler, die, gealtert, ihrem Freund und Förderer Salman Schocken empfahl, zur Versöhnung der Juden und Araber in Israel, die sie für möglich hielt, die Bücher weg zu schmeißen und einen Jahrmarkt für die Kinder zu bauen. Ich halte es für möglich dass dies Projekt immer noch realisiert werden und erfolgreich sein kann.
RS:
Du spielst in der Wupper die zentrale Figur der gealterten Else aus diesem Geist?
RC:
Else Lasker Schüler kann man nicht spielen. Ich spiele, sagen wir, den Blick der gealterten Else in Israel auf das, was aus ihrer Heimat, aus ihrer Kindheit geworden ist. Wuppertal war eine zentrale Stadt der Nationalsozialisten. Aber es ist auch die Stadt von Pina Bausch. Nach einer Lesung in Wuppertal Elberfeld entschloss sie sich, nie wieder dort zu lesen. Überall verstehe man sie, so schrieb sie, nur nicht in Wuppertal-Elberfeld.
Die Wupper und ihre Verfasserin weisen uns auf ein anderes, dringenderes Problem hin. Es betrifft uns, die Künstler. Zu Zeit Else Lasker Schülers suchten, fanden und vertraten die Künstler Positionen. Sie mischten sich ein. Das scheint mit dem Verlust von Utopie und mit dem Ende der Ideologien fast vollkommen aus unserem kulturellen Leben verschwunden. Heute tut man das kaum noch. Es ist in der heutigen Kunst bemerkenswert wenig Haltung zu finden. Es herrscht der pragmatische Geist des Funktionierens. Man passt sich an.
Sich einzumischen, den Kampf aufzunehmen, eben nicht zu funktionieren, das können die Künstler unserer Tage von Else Lasker Schüler lernen. Sich wie sie von der Anerkennung durch die Gesellschaft zu emanzipieren ist nötig für uns. Gegen die Ablehnung durch die Mehrheiten und ihre Anerkennung können und müssen wir die Kraft zum eigenen Werk in uns selbst finden, voraussetzungslos, aus dem eigenen Herzen und der eigenen Biografie. Ich selbst bin Kunst. Meine Kindheit ist Kunst. Es braucht nicht mehr als mein eigenes Herz.