Author: Rupert Seidl
Lassen Sie uns Jahrmarkt bauen!
Ein Gespräch zwischen Rupert Seidl und Roberto Ciulli über die Dichterin Else Lasker Schüler und der Inszenierung ihres Stückes Die Wupper“ in einer Koproduktion zwischen dem Schauspielhaus Düsseldorf und dem Theater an der Ruhr in Mülheim.
…Adon, schmeißen Sie alle Bücher fort, lassen Sie uns Jahrmarkt bauen. Ich wollte es schon vorriges Mal. Erkundigte mich – Holz ganz einfaches, – Karrossell – schwer mit bunten Glasperlen behangen – Buden zum Zusammenklappen. Ich leite zuerst Karussell mit hebräischen und arabischen kindliches Volksliedern. Alle Kinder kommen von 4 – 9 Uhr abends, und sich liebende Menschen und freuen sich was. Auch Waffelbude. Was sagen Sie? Ich flieg sonst fort – was soll ich hier – da man wie eingesperrt. – Ich kann organisieren. Habe Ideeeen. Der Jahrmarkt – eine liebe reine Sache. Gott könnte kommen und sich mit den kleinen und großen Kindern freuen. So versöhnen wir zunächst das Volk Judas und des Arabers…
Else Lasker Schüler an Salman Schocken
Rupert Seidl:
Du hast in deinen Arbeiten der letzten Jahre immer wieder – weit über die Lesart des inszenierten Stückes hinaus – das Leben seines Verfassers selbst befragt, teils so intensiv, das man sagen könnte, die Arbeit am Stück sei im Grunde dein Anlass gewesen dich dem Leben des Autors selbst zu nähern. Du hast die Essenz des Autorenlebens auf die Bühne gebracht und es dabei zugleich vollkommen neu gedeutet. Du hast es der herkömmlichen Rezeption entrissen und dabei so grundsätzlich neu gesehen, dass deine jeweilige Arbeit den Gedanken an eine bloße Hommage weit hinter sich liess. Das Ergebnis war stets eine Neuschöpfung, emanzipiert von jeder biografischen Faktenlage und bedeutend reicher als ein nacherzähltes Leben. Ob es sich um Lorca, Lenz, Fassbinder oder selbst Koltès handelte, ich hatte immer wieder das Gefühl an einer Art Autorenrettung aus den Klauen seiner gymnasialen Leser und Interpreten beteiligt zu sein.
Roberto Ciulli:
Autoren sind besondere Menschen. Besonders die Autoren, bei denen man Leben und Werk nicht mehr voneinander trennen kann. Ihr kreativer Impuls war so stark, dass er alle biografischen Ressourcen, alle persönlichen Glücksmöglichkeiten des schreibenden Menschen mit der Realisierung des Werkes verbrannte. Diese Autoren verbrannten buchstäblich schreibend, wurden von ihrer Arbeit getötet oder überlebten ihr Werk nur im Elend, in der Asche ihres kreativen Prozesses. Das gilt im höchsten Maße für Else Lasker Schüler.
RS:
Du sagtest, es sei ebenso unmöglich ihr Leben zu erfassen, wie es unmöglich sei, ihr Stück Die Wupper zu inszenieren.
RC:
Else Lasker Schüler hatte den Blick eines Kindes auf die Welt. Und wie ein Kind brach sie nicht nur jede Regel des gesellschaftlichen Lebens der sogenannten Erwachsenen, man kann fast sagen dass ihr derlei Regeln vollkommen unbekannt gewesen sein müssen. Sie war, wie Lenz oder Fassbinder, eine Tabubrecherin. Sie trennte nicht zwischen ihrem privaten Bereich und ihrem öffentlichen Wirken. Der Herausforderung einer solchen Frau konnten insbesondere ihre Männer nicht standhalten. Ich ein Glas Burgunder, er eine Porzellantasse Kaffee. schrieb sie über ihren ersten Mann Berthold Lasker, den Bruder des damaligen Schachweltmeisters Emanuel Lasker und nannte ihn öffentlich verächtlich einen Schachspieler in den Dingen des Herzens. Die zornigen Briefe, die sie ihrem zweiten Mann – Georg Lewin, dem sie das Pseudonym Herwarth Walden vorgeschlagen hatte – im Trennungsprozess schrieb, veröffentlichte sie aktuell in der Tagespresse und schrieb unmittelbar darauf den Roman Mein Herz. Wie sie sich dichtend schonungslos selbst verbrauchte, fledderte sie, so muss man es sagen, ebenso die Leichen der Männer, die sie zurück liess. Zugleich liebte sie immer. Sie war immer verliebt, bis ins Alter von zweiundsiebzig Jahren. Als sie ihr Ende nahen fühlte, schrieb sie: Mit mir geht es zu Ende. Ich kann nicht mehr lieben.
RS:
Sie ging in der Öffentlichkeit auf die Nerven. Sie setzte sich ein, für alles und jeden, der ihre Hilfe zu brauchen schien, ob es sich um psychisch Kranke oder nicht anerkannte Schauspieler handelte. Sie schrieb Briefe, unter anderem an Hitler, Mussolini oder Papst Pius XII. Natürlich erhielt sie nie eine Antwort. Sie kämpfte stets für andere und nie für sich selbst. Sie hatte in keinem ihrer Feldzüge eine Chance auf Sieg. Ihr einsamer Kampf gegen alles und alle war vollkommen aussichtslos.
RC:
Die Wupper liest sich wie die Erinnerung eines alten, eines ewigen Kindes an die biografische Kindheit.
Als Kind starb sie einmal beinahe durch einen Sturz aus dem Fenster im zweiten Stock, weil sie der endlich heimkehrenden Mutter entgegen fliegen wollte. Sie hielt das in dieser Situation für ohne weiteres möglich. Sie überlebte, weil sie, eigentlich schon aus dem Fenster getreten, an einer Jalousie hängen blieb – und wurde von der Feuerwehr gerettet. Durch diesen Schock litt die kleine Else unter dem Veitstanz und konnte die Schule nicht mehr besuchen. Sie wurde schließlich zuhause unterrichtet.
Auch in ihrem Werk trennt sie nie, wie sie selbst es ebenfalls niemals tun sollte, zwischen Rationalität und Mystik, Verstand und Gefühl, politisch- gesellschaftlich analytischer Hellsicht und märchenhaft naturverbundenem Schamanismus. Sie sieht aus den Augen eines Kindes, das alles sieht, was es nicht sehen und alles sofort begreift, was es nicht verstehen soll.
Alle denken, mein Verhalten sei sexuell, schrieb sie, aber es geht viel tiefer.
Die reiche Bourgeoisie, die Kaste der Fabrikherren und ihre Familien sind in dem Stück Die Wupper mit der Klasse der Arbeiter, mit den Familien der Armen durch tiefe Bande des unerlaubt heimlichen Trieblebens, der Päderastie und allen mannigfachen Formen der Begierde, Ausbeutung und Erpressung verbunden. Die Ärmsten der Armen, die Obdachlosen, die auch die Geschlechtsgrenzen hinter sich gelassen haben – die transsexuelle lange Anna, der Exhibitionist Pendelfrederich und der gläserne Amadeus, der das Herz selbst repräsentiert – sind Gespenster, Menschen und Engel zugleich.
Die sexuelle Identifikation aller mit allen führt in den direkten Verfall aller Strukturen. Der Trieb obsiegt und führt direkt, das sieht sie lange voraus, direkt in den Stiefeltritt der Nationalsozialisten, wo jede Perversion zur Legalität wird. Sie ist Kassandra. Armageddon, der Weltuntergang, ist die Zukunft. Der Sieg des Bösen durch das Banale, die Banalität des Bösen in Figuren wie Eichmann oder Himmler, wird bereits in dem 1909 geschrieben Stück Die Wupper evident. Fünfunddreißig Jahre später war Wuppertal eine Nazihochburg. Der Sieg gehörte dem perversen Spießer. Else Lasker Schüler war ein Don Quichotte gegen diese Windmühlen des Weltuntergangs.
RS:
Sie sieht im Traum.
Im Spiel mit Knöpfen, das ihre Mutter mit ihr spielte, wurden die Knöpfe zu Wesen, zu Individualitäten. Dem schönsten, dem glänzendsten Knopf gab die Mutter den Namen Jussuf von Ägypten. Jussuf, der Josef des alten Testamentes, deutet die Träume des Pharao. Er wird zum Alter Ego ihrer Traumwelt, die sie stets untrennbar von ihrer realen Biografie lebt. Sie ist Jussuf von Ägypten, der Prinz von Theben. Ihre Freunde, Franz Marc oder Gottfried Benn sind bei Ausbruch des ersten Weltkrieges idealistisch und ahnungslos kriegsbegeistert. Viele ihrer Freunde, darunter auch Franz Marc, fallen in den Schützengräben. Der blaue Reiter ist gefallen. Sie dichtete:
Sind meine Kinder.
Alle meine Spielsachen
Liegen in ihren Gruben.
Immer spiel ich Soldaten
Mit deinen Fingern, kleine Reiter,
Bis sie umfallen.
Wie ich sie liebe
Deine Bubenhände, die zwei.
Ihre Zukunftsvisionen, treffend wie die der Kassandra oder des Joseph von Ägypten sind verstörende Märchenbilder – wie die der Apokalypse.
Wie ist es heute? Ob im muslimischen oder amerikanischen Fundamentalismus, ob im nahen Osten oder oder im Osten Deutschland formiert sich der neue Faschismus. Kommt er auch aus dem Trieb? Hat die sogenannte sexuelle Revolution, die geradewegs in die sexuelle Industrie geführt hat, zu einer sexuellen Verelendung, zu einem sexuellen Hunger geführt, der als wütend perverser Trieb sich in den neuen Exzessen von Gewalt, Homophobie, Frauendiskriminierung und Fremdenhass auslebt? Handelt es sich um triebhaft sexuelle Inszenierungen?
RC (lacht):
Gegen die unfassbaren Gräuel der Geschichte haben die Praktiken der Isis fast noch etwas Künstliches, Abstraktes. Die Geschichte hat vor gar nicht langer Zeit noch bedeutend Entsetzlicheres gesehen. Pegida und Afd dagegen werden in der öffentlichen Rezeption noch immer als etwas Politisches aufgefasst. Ein gesellschaftlicher Impuls, der mit Ökonomie und ökonomischer Gerechtigkeit zu tun hat, wird unterstellt. Aber damit hat es nichts zu tun. Diese Bewegungen sind reiner kollektiver Trieb. Aber eigentlich sexuell ist er nicht. Er ist nicht einmal menschlich. Es handelt sich um die panische Angst im Territorialverhalten der Tiere, zum Beispiel der Wölfe.
RS:
Pirandello spricht ja im Zusammenhang mit den Vorläufern der heutigen Wutbürger davon, sie hätten nichts menschliches mehr, sie hätten Wolfsaugen.
RC:
Else Lasker Schüler, die Dichterin mit dem Kinderblick, hätte heute gesagt: Aber sie reden ja gar nicht. Sie bellen. Mit den Anhängern von Afd und Pegida kann man nicht sprechen. Bestenfalls helfen die Techniken zoologischer Verhaltensforschung. Mit ihnen kann man bellen. Oder knurren. Oder beißen. Nein, ich habe keine Sorgen. Das Pendel der Geschichte wird eines Tages wieder in die andere Richtung ausschlagen. Die Welt wird nicht mit uns zu Ende sein. Das Ende der Geschichte ist noch nicht gekommen. Die Geschichte wird uns überleben. Es wird noch Geschichte stattfinden wenn wir nicht mehr da sind. Nein, ich bin optimistisch. Ich halte es mit Else Lasker Schüler, die, gealtert, ihrem Freund und Förderer Salman Schocken empfahl, zur Versöhnung der Juden und Araber in Israel, die sie für möglich hielt, die Bücher weg zu schmeißen und einen Jahrmarkt für die Kinder zu bauen. Ich halte es für möglich dass dies Projekt immer noch realisiert werden und erfolgreich sein kann.
RS:
Du spielst in der Wupper die zentrale Figur der gealterten Else aus diesem Geist?
RC:
Else Lasker Schüler kann man nicht spielen. Ich spiele, sagen wir, den Blick der gealterten Else in Israel auf das, was aus ihrer Heimat, aus ihrer Kindheit geworden ist. Wuppertal war eine zentrale Stadt der Nationalsozialisten. Aber es ist auch die Stadt von Pina Bausch. Nach einer Lesung in Wuppertal Elberfeld entschloss sie sich, nie wieder dort zu lesen. Überall verstehe man sie, so schrieb sie, nur nicht in Wuppertal-Elberfeld.
Die Wupper und ihre Verfasserin weisen uns auf ein anderes, dringenderes Problem hin. Es betrifft uns, die Künstler. Zu Zeit Else Lasker Schülers suchten, fanden und vertraten die Künstler Positionen. Sie mischten sich ein. Das scheint mit dem Verlust von Utopie und mit dem Ende der Ideologien fast vollkommen aus unserem kulturellen Leben verschwunden. Heute tut man das kaum noch. Es ist in der heutigen Kunst bemerkenswert wenig Haltung zu finden. Es herrscht der pragmatische Geist des Funktionierens. Man passt sich an.
Sich einzumischen, den Kampf aufzunehmen, eben nicht zu funktionieren, das können die Künstler unserer Tage von Else Lasker Schüler lernen. Sich wie sie von der Anerkennung durch die Gesellschaft zu emanzipieren ist nötig für uns. Gegen die Ablehnung durch die Mehrheiten und ihre Anerkennung können und müssen wir die Kraft zum eigenen Werk in uns selbst finden, voraussetzungslos, aus dem eigenen Herzen und der eigenen Biografie. Ich selbst bin Kunst. Meine Kindheit ist Kunst. Es braucht nicht mehr als mein eigenes Herz.
Der Muezzin in Metz
Ein Gespräch zwischen Roberto Ciulli und Rupert Seidl über die Inszenierung von Bernard Marie Koltès’ Rückkehr in die Wüste und ihr Publikum
Rupert Seidl:
Deine Inszenierung von Bernard Marie Koltès‘ Rückkehr in die Wüste hat die Premiere und ersten Vorstellungen auf den Ruhrfestspielen in Recklinghausen erlebt. Überraschen Dich die Reaktionen des Festivalpublikums?
Roberto Ciulli:
Theatermacher mit einiger Erfahrung sollten nicht mehr allzu oft überrascht werden. (Lacht) Vorauszusehen, wie die Arbeit en Detail aufgenommen werden wird, ist in gewisser Weise Teil des konzeptionellen und inszenatorischen Prozesses. Man sollte stets so genau wie möglich wissen können, wie die Arbeit in der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation wirken und was sie bewirken wird. Wie werden Publikum und Presse reagieren? Welche genau zu bezeichnende Reaktion werden unsere Bemühungen erfahren? Man sollte stets seine Antwort auf diese Fragen kennen, beileibe nicht um opportunistischen Erfolg zu provozieren, eher, um sich über die Folgen seiner künstlerischen Konsequenz von vornherein klar zu sein. Nur so kann man einen bewussten Dialog mit der Öffentlichkeit führen. Aber etwas Überraschung bleibt immer. Die, aus der man etwas erkennen kann.
Rückkehr in die Wüste von Bernard Marie Koltès ist kein publikumsfreundliches Stück. Der lineare Handlungsverlauf tritt hinter den Ober- und Untertöne der Situationen zurück. Der Text wirkt überbordend und fragmentarisch zugleich.
Rupert Seidl:
Schon die reine Fabel des Stückes nachzuerzählen ist gar nicht so einfach. Bei Koltès ist der Theatertext sehr nahe am Ursprung des Wortes Text zu verstehen. Er hat mit Textur oder Textilien zu tun, er ist aus vielen Fäden gewebt, oft sind seine Strukturen eher gerissen als zugeschnitten.
Roberto Ciulli:
Der Wunsch des Autors war stets – darin ist er übrigens Anton Chekhov verwandt – die komische, leichte, die boulevardeske Seite seiner Stücke in den Inszenierungen akzentuiert zu sehen. Das ist selten oder nie geschehen. Die Stücke wurden meist schwarz inszeniert. Es waren lange, ernste und schwere Abende. Koltès Stücke aber lesen sich bei aller illusionslosen Bitterkeit immer wieder leicht und ironisch Oft sind sie von einer hinreißenden intellektuellen Komik. Damit sind sie Michel Houellebecqs leichter Prosa und pointierter Treffsicherheit verwandt.
Rupert Seidl:
Michel Houellebecq treibt die Ironie auf die Spitze. In seinem Roman Unterwerfung wandelt sich Frankreich aus seiner eigenen Normalität konsequent zu einem islamischen Staat. In der Inszenierung von Koltès’ Rückkehr in die Wüste am Theater an der Ruhr wird die französische Provinz zur algerischen Wüste. In Metz hört man den Muezzin.
Von der Bühne aus, wenn wir spielen, empfinden wir die Reaktionen des Publikums anders als vom Zuschauerraum aus. Wie empfandest Du die Reaktionen des Publikums in Recklinghausen?
Roberto Ciulli:
Vor zwanzig, vor zehn Jahren noch hätte sich das Publikum spontaner verhalten. Vor Charlie Hebdo noch waren die Reaktionen anders. Diese Veränderungen begannen mit der Fatwah gegen Salman Rushdie, jetzt werden sie evident.
In den ersten Vorstellungen von Koltès Rückkehr in die Wüste hat sich das Publikum kontrolliert. Der Impuls zu lachen war spürbar, aber das Publikum bremste sich. Das Publikum spürte lebhaft wie komisch es Koltès meinte. Aber es lachte innerlich, nicht äußerlich. Natürlich verändert die Diskussion die Rezeption. Das Theater ist öffentlicher Raum.
Rupert Seidl:
Handelt es sich dabei um Political Correctness? Kann man nach Charlie Hebdo sogar von Angst sprechen? Fallen Dir gegensätzliche Erfahrungen mit dem Lachen des Publikum ein?
Roberto Ciulli:
Angst würde heute noch niemand zugeben. Aber es gibt die Angst, durch Gelächter zu verletzen. Das ist etwas für Konservative. Diese Angst ist letzten Endes schlechter Geschmack.
Ich erinnere mich gerne an die Reaktionen des Publikums im Iran. Durch die islamistische Zensur ist dort die Berührung zwischen Mann und Frau auf der Bühne streng verboten. Die in der iranischen Gesellschaft mit Todesstrafe geahndete gleichgeschlechtlich zärtliche Berührung ist hingegen absurderweise auf der Bühne erlaubt. Die iranische Gesellschaft dachte und empfand bedeutend freier als es die Regeln der Zensur vorgaben. Wir erfanden ein besonderes Spiel mit den Vorgaben der Zensoren. Wenn sich auf der Bühne die Gesichter eines Mannes und einer Frau zum Kuss näherten und die Darsteller dann im letzten Moment vor der Berührung zurückschrecken, lachte das Publikum spontan und herzlich.
Rupert Seidl:
Political Correctness hat viele Aspekte. Wir sind natürlich längst nicht Charlie Hebdo, auch wenn sich eine große Solidaritätsbewegung emotional und letztlich unwahr zu diesem Satz bekennt. Wir sind solidarisch mit ihm, aber wir sind nicht Charlie Hebdo. Charlie Hebdos Gelächter ist aggressiv atheistisch. Viele von uns sind es nicht oder nicht in dieser Weise.
Roberto Ciulli:
Die Satire dieser Zeitung ist bekennend und bewusst verletzend gegenüber jeder Art von Religion und religiöser Empfindung. Niemand hat so aggressiv das Christentum, die Skandale der katholischen Kirche und die im Klerus verbreitete Pädophilie, selbst das Wort des Neuen Testamentes angegriffen wie Charlie Hebdo. Lasset die Kindlein zu mir kommen ist die Überschrift einer ganzen Serie von Angriffen gegen den kirchlichen Kindesmissbrauch. Das ist in Europa möglich. Die christlichen Kirchen und viele ihrer Anhänger halten, ihrer Religion treu, die andere Wange hin. Es gibt keine Terroranschläge, keine Racheakte von Christen gegen Meinungsfreiheit, wenigstens bis heute nicht.
Die Satire von Charlie Hebdo ist so extrem und aggressiv, dass man sich unwillkürlich an die Karikaturen des nationalsozialistischen Der Stürmer gegen die Juden erinnert fühlt. Das ist die andere Seite der Medaille. Hier wird es kompliziert. Soll das auch erlaubt sein? Sollte, kann das verboten werden? Es ist nicht alles möglich. Es gibt Dinge, die man nicht sehen will. Es sollten Grenzen gewahrt werden, auf jeden Fall die Grenzen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit auch gegen Andersdenkende. Ich bin Charlie Hebdo – das hilft gar nichts, wenn man nicht weiß was das heißt.
Rupert Seidl:
Sollten wir vorsichtiger lachen?
Roberto Ciulli:
Die Vorsicht beim Lachen ist noch lange keine Bewusstwerdung. Sie ist eigentlich ein Zurück. So nimmt man uns den Humor unseres Blickes auf die Welt. Wenn wir aber die Ironie, die Leichtigkeit verlieren, werden wir ernst. Und dann werden wir sehr schnell aggressiv. Wir brauchen einen universellen Blick auf die Welt. Universalität setzt Humor voraus. Nur die Provinzialität ist ernst. Wir brauchen einen universellen Blick. Aber unser Blick wird mehr und mehr provinziell. Unsere geographischen Grenzen sind absurd geworden. Wir schützen sie nicht nur mit Stacheldraht. Wir ziehen diese Grenzen im Kopf nach. Wir sichern unsere Grenzen durch Ignoranz. Wenn das universelle Lachen verschwindet, verschwinden Sympathie und Solidarität aus unserem politischen Denken.
Rupert Seidl:
Und dann ersetzt die Wut den Humor. Der Wutbürger betritt die öffentliche Szene. Er will mit dem Rest der Welt nichts zu tun haben. Er will den Rest der Welt nicht einmal wahrnehmen. Das Gebrüll ersetzt das Gelächter.
Roberto Ciulli:
In Italien ist man der Weltlage viel unmittelbarer ausgesetzt als hier zu Lande. Täglich kommen Tausende an den Küsten Süditaliens an. Eine regelrechte Völkerwanderung findet statt. Das will man hierzulande gar nicht wirklich wissen. Die nordeuropäischen Staaten verweigern bislang jede wirkliche Solidarität mit den europäischen Staaten des Mittelmeerraumes. In Italien greift man mehr und mehr zu einer sehr simplen Strategie. Erst kommt der Italiener, dann die Afrikaner, das ist die Parole. Man hetzt die Armen gegen die Ärmeren auf. In Italien, auch in Frankreich kocht bereits ein unvorstellbar humorloser Hass gegen Flüchtlinge jeder Art. Mit den christlichen Grundlagen unserer Kultur hat das nicht mehr das Geringste zu tun. Wir vernichten das, was unsere Kultur ausmacht. Der grenzwahrende Hass ist nicht nur Hass auf alle Universalität. Es ist der Hass auf unsere eigene Kultur. Er ist Kulturverlust.
Rupert Seidl:
Wie kann man bei Koltès lachen?
Roberto Ciulli:
In Koltès Stück sagt ein dunkelhäutiger französischer Soldat – der Autor verfügt, dass es ein gebürtiger Afrikaner sein muss, ein hellhäutiger Schauspieler darf die Rolle nicht spielen – er habe Sehnsucht nach der Kolonialzeit, er sei aus Sehnsucht nach der Kolonialzeit in die Armee eingetreten. Koltès lässt ihn das Gegenteil der Wahrheit sagen. Das ist böse. Das ist Satire. Es kommt zum Schulterschluss zwischen europäischem Spießer und militarisiertem Afrikaner auf der Basis von Angst und Wut. Eigentlich ist die Szene zwischen ihm und dem Protagonisten Adrien eine sehr komische Szene. Heute weigert sich das Publikum darüber zu lachen. Heute ist man vorsichtig, Und wenn der Afrikaner von Negern spricht, dann hält man sich die Ohren zu.
Rupert Seidl:
Ist das speziell deutsch? Die Kinder der Nazis spürten einen großen Impuls zur Wiedergutmachung. Die Enkel setzen diesen Impuls heute durch Weltbelehrung fort. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, da sind wir wieder.
Roberto Ciulli:
Die Realitäten der Ökonomie zerstören unsere humanistische Glaubwürdigkeit. Und dieser Widerspruch wird selbst ein Thema des Witzes. Außerhalb Deutschland findet man die Darstellung Angela Merkels als Nazi witzig. Die Politik der Austerität wird angegriffen. Die Troika zwingt alle europäischen Staaten eine Neuverschuldung von 3 % nicht zu überschreiten. Dadurch oktroyiert sie anderen Ländern einen Sparzwang auf, den sie nicht durchhalten können. Deutschland kann auf der Basis der Agenda 2010 eine solche Politik machen, sie haben die nötigen Reformen bereits vollzogen. Den Anderen ist es nicht möglich. Viele Merkel-Karikaturen wirken auf uns wie Mohammed-Karikaturen auf gläubige Muslime. Aber noch leben nazionalsozialistische Täter in Deutschland und Europa. Wir haben völlig vergessen, was wir Griechenland schulden. Griechenland ist die Wiege Europas. Ohne Griechenland gäbe es so etwas wie Europa nicht, weder kulturell noch politisch. Demokratie ist eine Erfindung des antiken Griechenland.
Fremde Witze verstehen, über fremde Witze lachen – das ist ein Weg, sehr viel zu lernen was bei aller Wiedergutmachung in Deutschland noch nicht gelernt ist.
Rupert Seidl
Wie versteht Dein Theater das Lachen des Publikums?
Roberto Ciulli:
Das Lachen ist immer relativierend. Es löst die Gefahren auf. Chaplins Der große Diktator bewies dass man über jemand wie Hitler auch lachen darf. Das Element des Komischen ist die Spontaneität. Darf ich lachen, darf ich es nicht? Fragt man sich das, ist man unfrei. Mozarts spontanes, unanständiges Kinderlachen ist ein Beispiel für die Freiheit des Humors. Das Lachen des Kindes in Des Kaisers neue Kleider öffnet Augen, nimmt wahr, reißt die Grenzen der Wahrnehmung ein mit der wir unvoreingenommene Rezeption der Lage verweigern. Konvention ist Rezeptionsverweigerung. Humor löst Konventionen zu Gunsten von Erkenntnis auf. Das Theater ist der Ort der spontanen, der freien Wahrnehmung.
Der König Peter in Büchners Leonce und Lena hat nichts zu sagen, nicht das Geringste. Was er angesichts dieses Fakts zu sagen versucht, das ist sehr komisch. Man sieht es, hört es und lacht. Das Lachen über Königs Peters neue philosophische Kleider ist ein Lachen der Erkenntnis.
Das Lachen der Erkenntnis ist das einzige wichtige Lachen im Theater.
Probeneindrücke zu Bernard Marie Koltès „Rückkehr in die Wüste“
Fotos von Rupert Seidl
Wann wird es endlich wieder werden, wie es niemals war?
Roberto Ciulli inszeniert Rückkehr in die Wüste von Bernard Marie Koltès / Frank Witzel schreibt Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Jahre 1969
Das der Dichter auch in diesem Jahr wieder niemand erschossen hat sondern stattdessen ein Buch geschrieben, das dankt ihm die Gemeinde.
Herbert Achternbusch.
I.
Das neunzehnte Jahrhundert Ludwig Richters konnte die vergangene Kindheit ungebrochen zum verlorenen Paradies stilisieren. Das tun wir natürlich schon lange nicht mehr. Das Misslingen der Kindheit hat in unserem Diskurs eine wichtige Funktion als zentrale Rechtfertigung gegenwärtigen Scheiterns. Wir beklagen ihre Mängel, um bleiben zu dürfen wie wir sind: unfertig, unfrei und unglücklich. Wir machen Andere verantwortlich, um unsere größten Handlungsmöglichkeiten ungenutzt auf unbestimmte Zukunft zu verschieben. Eine Kritik aber, die die Verweigerung unseres zentralen Handlungspotentials begründet und zementiert, verdient den Namen nicht. Eine Kritik, die den Namen verdient, setzt Aktivität frei. Sonst ist sie keine Kritik.
Insgeheim halten wir es weiterhin mit Ludwig Richter, auch im Klageton. Wir bewahren uns die Erinnerung an unsere Kindheit als ein unerreichbares und daher ungefährliches, den Status Quo nicht wirklich in Frage stellendes Paradies des Unglücks. Sie begründet alles. Sie verändert nichts. Diese Kindheitserinnerung ist ein ebenso artifizielles Produkt wie die Zeichnungen Ludwig Richters. Sie ist zensiert durch die endgültige Verdrängung aller wirklichen Schrecken, jeder Beschädigung, deren Rezeption zu verweigern uns vollständig gelingt. Sie ist sauber ausgewaschen. Sie ist das, was übrigbleibt, wenn es gelungen ist, das Verdrängte wirklich restlos zu verdrängen. Das macht sie zur Idylle – und die Verdrängung zu einer Krankheit zumTode. Jedes Idyll, sagt Thomas Hettche in seinem Buch Totenberg, sei der Tumormarker des Verdrängten.
Es ist die Religion, die der Verdrängung eine gute Arbeitsoberfläche liefert. Kindheitsparadies und Religion treten Hand in Hand auf. Sie brauchen einander. Auch wenn sie getrennt marschieren, schlagen sie gemeinsam. Wir haben Angst vor der Aufklärung. Hat man vom Baum der Erkenntnis gegessen, weiß man letztendlich, was gut und böse ist, ist man einmal geworden wie Gott, dann fliegt man auf der Stelle und für alle Zeiten aus diesem künstlichen Paradies hinaus. Eine so folgenschwere Entscheidung will gut überlegt sein. Den Sirenenstimmen von Kindheit und Religion zu widerstehen, benennt Björnsterne Björnsson als den schwersten inneren Kampf des Menschen, der sich kritisch und atheistisch aufzuklären versucht.
II.
Bernard Marie Koltès siedelt sein vorletztes Stück Rückkehr in die Wüste in seiner Vaterstadt Metz an, etwa 1960, um die Zeit seines zwölften Lebensjahres. Frankreich steht im Algerienkrieg. Im Lande selbst terrorisieren Front National und OAS die eingewanderten Menschen aus den französischen Kolonien des Maghreb nicht nur mit Diskriminierung und Ausgrenzung. Insbesondere die OAS verübt blutige Attentate auf Geschäfte, Einrichtungen und Demonstrationen der Zuwanderer. Die Realität, die er beschreibt, ist ebenfalls im realistisch linearen Erzählstrang nicht mehr zu fassen. Innere und äußere Realitäten, Visionen und Besessenheiten überschneiden sich, die Innen- wie die Außenwelt der handelnden Personen liegen in einem ebenso blutigen Krieg miteinander wie die Parteien des politischen Konfliktes. Sie besetzen, bekämpfen und unterdrücken einander. Klare Grenzen zwischen ihnen kann die Erzählung nicht mehr ziehen. Christliche wie islamische Motive strukturieren nicht nur die Handlung, die Gespenster der Vergangenheit borgen ihre Kostüme aus. Eine Handlung nachzuerzählen, ist eine schwierige Aufgabe angesichts dieses aus den verschiedensten Realitätsebenen verwobenen Theatertextes.
Adrien und Mathilde, ein Geschwisterpaar, sind die Abkömmlinge und Repräsentanten der ökonomisch mächtigsten Familie der Stadt. Dem Geschwisterpaar, tief inzestuös verstrickt, gelingt es zum Kern seiner intimsten Wünsche vorzustoßen und ihn schließlich zu realisieren. Dazu aber ist es für beide nötig, ihre ganze bürgerliche Identität zu zerstören, sich aus allen Bindungen zu lösen und sich sogar von den eigenen Kindern zu befreien. Dies gelingt ihnen durchaus nicht im revolutionären Angriff auf die eigene Welt. Ihrer Befreiung liegt kein eingestandener Plan zugrunde. Der nationalistische Terrorismus gegen die Fremden, die Kolonialisierten im eigenen Land, die Araber aus Algerien, in dem sich insbesondere Adrien engagiert, legt mit der Bombe eines Attentats auf ein arabisches Kaffeehaus die eigene Familienstruktur in Schutt und Asche. Einen Plan zu ihrer Befreiung könnten die Geschwister auch gar nicht haben. Sie wissen weder um ihre Liebe noch um den tiefen Inzest, der sie verbindet. Das Zentrum ihres Lebens ist zutiefst verdrängt. Tatsächlich glauben sie einander zu hassen und zu fürchten. Adrien insbesondere fürchtet nichts so sehr wie seine Schwester Mathilde.
Bernard Marie Koltès wahrt das Schweigen der bürgerlichen Familie, das Stück deckt die Verdrängungen der Protagonisten nicht auf. Als junge Frau wurde Mathilde schwanger. Von wem, das weiß sie nicht. Sie erinnert sich nur einer Nacht im Garten und einer tiefen Ohnmacht. Der Leser darf ein verdrängtes Inzesterlebnis mit ihrem Bruder nur vermuten. Vater und Familie warfen ihr Fraternisierung mit einem unbekannten deutschen Soldaten vor. Nach der Befreiung von den Deutschen schor man ihr die Haare, wie allen französischen Frauen, die man für sexuelle Kontakte mit deutschen Soldaten bestrafte. Selbst ihre beste Freundin, Marie, später die Ehefrau Adriens, stellte sich gegen sie. Möglicherweise wurde diese später von ihrem Ehemann Adrien mit einem Kopfkissen erstickt. Nun ist sie tot, nur das ist sicher. Nach ihrem Tod heirate Adrien deren Schwester Marthe, die nun zwischen katholisch religiösem Wahn und exzessivem Alkoholismus, wie Adriens Sohn im Hause eher gefangen als geborgen, an seiner Seite lebt. Mathilde ist mit ihren Kindern nach Algerien geflohen.
III.
Vor kurzem erschien das Buch von Frank Witzel Die Erfindung der roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Jahre 1969 im Matthes & Seitz Verlag, ein Band so umfangreich wie Herrmann Melvilles Moby Dick und nicht nur im Umfang dieser Schilderung eines lebensverschlingenden Kampfes verwandt. Frank Witzel klärt sich schonungslos über ein Leben als Jugendlicher auf, der im Jahre 1969 und mitten in der Pubertät eine Krise durchlebt, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen wird. Sein Protagonist kann, kurz gesagt, nicht mehr wissen, ob die Taten der RAF nicht in Wirklichkeit von ihm selbst und seinen Klassenkameraden als Schülerstreiche verübt wurden, ob das Signet der Roten Armee Fraktion nicht von dem Logo des heimatlichen Turnvereins abgeleitet und er selbst sein Leben lang gesuchter Terrorist geblieben ist. Historie und Erinnerung sind für ihn nicht mehr zu trennen. Es lesend, folgen wir der Maxime Marcel Prousts, der von seinem Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sagte, der Leser würde nicht so sehr sein Buch sondern vielmehr das eigene Leben lesen. Witzel, ein zweiter Vergil, führt den Leser seiner Generation durch die Hexenkreise der Rechtfertigungszyklen geradewegs in die Hölle unserer verdrängten Jugenderinnerungen. An seiner Hand entdeckt der Leser die Eigenen überraschend wieder. Er sieht, wie viel er damals alles zu bemerken im Stande gewesen war. Eindrücke drängen sich zu, die er, warum auch immer, vollständig vergessen hat.
Alles kommt zurück. Spielzeug, Süßigkeiten und Schülerwitze, Comichefte, Tapeten, Seifenschalen, Plattencover, Gerüche in Räumen, Winkel hinter dem Haus, Licht und Wetterstimmungen der Tageszeiten. Im Garten, um das Haus, in den Vororten, an den verbotenen Orten, die geheimen Schauplätzen intimen zu sich Kommens. Die einsamen Plätze qualvoller Sehnsucht. Die Schule, die Kirche. Das Abendessen im Kreis der Familie, die keine mehr ist. Das, was einem vermittelt wurde, das, worunter man litt. Die Angst vor dem Versuch, die Erfahrungen zu benennen, für die es damals keine gestatteten Worte gab. Die Not. Die Schlüsse die man, sie zu bannen, zog und die niemals zureichen konnten. Die Versuche sich zu erklären, was aus dem eigenen Sein nicht erklärt werden konnte.
Der Jugendliche projiziert aus sich hinaus, das ist alles was ihm bleibt. Die unbenennbaren Dämonen der Familie, der Erziehung und der Religion besetzten die Fenster und Türen aller Weltvorstellung. Frank Witzel erinnert sich wie man sich die DDR vorstellte. Wie man sich Gott vorstellte. Wie man sich Vietnam vorstellte. Wie man sich die Nazis vorstellte. Wie man sich all das in der Einsamkeit der Sprech- und Denkverbote selbst und völlig falsch erklärte. Es verkannte die Sache, es erkannte präzise den eigenen Mikrokosmos. Das, wovon beim Abendessen nicht gesprochen wurde, erklärte sich. Das was der Vater aus dem Krieg oder aus der Arbeit mitbrachte, das woran die Mutter starb. Die Strafen, die man erfuhr. Die Ängste, die man hatte. Unbegründete, nur allzu begründete. Die Sprache der Eltern, der Lehrer, der Geistlichen und der Schulpsychologen ist das, was durchschaut wird; die Dinge, aus deren Macht man sich doch immer weniger und weniger lösen kann.
Um das unbenannt Bemerkte wiedererkennbar schildern zu können, muss der Autor seine Phantasie, seine Sprache verrücken. David Cooper sagt, die Sprache der Verrücktheit sei die verrückte Sprache die sich unter der Wucht des zu Benennenden aus der kausalen Grammatik löst und Poesie wird. Frank Witzels Erzählen wird zur Poesie, zur wahnwitzigen Groteske, sein Erzählen eignet sich Bezüge und Genres an, nicht nur aus Spieltrieb, aus nackter Not. Der Schlaf der Vernunft, narkotisiert von Erziehung und Unterdrückung, gebiert Monstren. Die erwachende Vernunft zieht sie ans Tageslicht. Es geht über ihre Kräfte. Sie verrückt sich. Der Erzählende wird verrückt. Er kann nicht mehr linear erzählen, es erzählt aus ihm. Der Strang seines Erzählen erweitert sich zum Gewebe. Text wird zur Textur. Alles Gelernte, alles was ergriffen hatte, alles was begriffen wurde, ist nötig um in Sprache zu bannen, was sich befreit und zudrängt. Mit einem Vulkan an Biographie bricht auch ein Vulkan des intertextuellen Bezugs aus. Literarische Parodie, Surrealismus, Gedicht, Propagandaliteratur, Rede, platonischer Dialog, Surreales schaffen einen lebendigen Dschungel an Text, in dem man sich verlaufen kann, zwangsläufig verlaufen muss.
Die Idylle der alten BRD entlarvt sich als Potemkinsches Dorf, ein Disneyland, gesponsert aus den USA, gestaltet, eingerichtet und betrieben von ehemaligen Nazis. Hinter der Kulisse des Idylls sind die Monstren der Vergangenheit nach wie vor am Werk. Löst man sich daraus, fängt man an, das zu erkennen, kann es passieren, dass man psychiatrisch auffällig wird. Denn man muss sich dazu verrücken, verrückt werden. Man greift in den festgeschriebenen Code ein. Es kann sein, dass man zur Gewalt greift. Die Kulisse zertrümmert. Sich selbst zu einem der Monster macht, die man als Ursache, als reale Kraft hinter allem erkennen musste. Es kann sein dass man Terrorist wird, Attentäter oder Sexualverbrecher. Diese Aufklärung geht sehr weit. Es ist eine gefährliche Reise. Aber man muss diese Reise unternehmen. Man muss sich über seine Kindheit aufklären, um das beschädigte Kind hinter sich lassen zu können. Wenn man das nicht tut, wird das beschädigte Kind möglicherweise ein Monster, das sein vermeintliches Recht auf ein Idylle des Verdrängens mit Gewalt durchsetzen will.
IV.
Will man hingegen das Idyll schützen, das Verdrängte für alle Zeiten in das Unbewusste bannen, ist schlimmere Gewalt gegen andere die Folge. Man kann sich die neue Rechte in Europa als eine solche Regression erklären, eine Regression, die zurückfinden will zum Idyll der unerlösten Kindheit. Ihr Ziel ist die Verdrängung der Vernunft. Nationalismus und neue Rechte wollen dafür sorgen dass die Welt wieder so wird wie sie niemals war. Eine Welt, wie man sie sich als Kind vorstellte, vorstellen musste. Man macht sich zum Monster, indem man alle Bereiche heutiger Wirklichkeit, die über die Wahrnehmungsgrenzen dieses Kinderparadieses hinausgehen, vertreibt, verjagt, wegmacht und ausfliegt. Man wird zum Monster, um ein Idyll zu verifizieren, an dem nichts Wahres war noch ist. Eltern aber, die sich aus dem Horror der eigenen Kindheit nicht lösen können, fressen ihre eigenen Kinder auf, um selbst Kind, selbst unerlöst bleiben zu können.
Klärt man sich über die eigene Kindheit auf, kann es sein, dass man bei der Aufklärung über den Zustand der Welt endet. Bernard-Marie Koltès vorletztes Stück Rückkehr in die Wüste ist eine solch radikale Reise in die Welt seiner Kindheit, die die Lage der Welt widerspiegelt.
Um 1960 kehrt Mathilde zurück nach Frankreich. Um sich zu rächen? Um ihren Bruder mit sich zu nehmen? Ihr gehört das Haus, Adrien gehört die Fabrik der Familie. Der Terror in der Familie findet sein Spiegelbild im Terrorismus Adriens. Es sind die Kinder der Beteiligten, die Opfer dieses Terrors werden. Mathieu, der Sohn Adriens, wird an den Folgen der väterlichen Bombe sterben, ebenso wie sein algerischer Bedienter Aziz. Edouard, der Sohn Mathildes, wird Selbstmord begehen. Fatima, die Tochter Mathildes, kann den Geist der immer noch im Hause spukenden Marie wahrnehmen und eine Beziehung zu ihr entwickeln. Sie wird als Eremitin in der algerischen Wüste enden. Aber vorher wiederholt Fatima das Schicksal der Mutter. Sie bringt Zwillinge zur Welt, denen sie den Namen Romulus und Remus gibt. Die Kinder sind schwarz und haben krauses Haar. Sie sind es, die, mit den Worten Mathildes, Stunk machen werden in dieser Stadt, gewaltigen, und zwar schon bald. Das neue Rom wird eine Gründung der Kolonialisierten sein, die aus dem exportierten Elend zurückkehren und Europa mit ihrem Elend einnehmen werden. Adrien verlässt Haus und Familie. Er bricht mit Mathilde in ein neues Leben auf, die ihrerseits ihre Kinder hinter sich lässt. Sie werden nun auf Kosten ihrer Kinder für immer die Kinder bleiben, die sie stets gewesen sind.
Koltès 1960 wird zum Heute. Und Roberto Ciullis Inszenierung nimmt das Stück beim Wort. Die Wüste ist längst in Frankreich angekommen. Der Ruf des Muezzin ist zu hören, nicht die Glocken der Kathedrale. Das Haus ist längst eine Ruine. Die handelnden Personen sind vielleicht schon lange tot. Ewige im Hause und in sich selbst gefangene Kinder, agieren sie weiter in der lang nicht mehr existenten Welt ihrer Kindheit, verloren in der kolonialisierten Wüste, die das sogenannte Mutterland schon längst verschlungen hat.
In dieser Aufführung wird der Komiker Louis de Funès zum Vorbild Adriens. Die Rage, die Wut, der Furor des autoritären und entgrenzten Patriarchen, der sich zum Affen macht, treiben die Handlung voran. Oder macht er sich nicht zum Affen, macht er sich zum tobenden Kind? Wenn man seine Kindheit nicht entlarvt, wenn man sich von der Kindheit nicht trennt, dann kann man nicht wachsen. Man bleibt klein. Ein tobender Zweijähriger, ein Rumpelstilzchen, dass sich letztlich selbst entzwei reisst. Sie frisst einem das Leben ab. Man kann niemals der werden, der man ist. In das Paradies der unaufgeklärten Kindheit kann man nicht zurückkehren. Die Türe ist kleiner als man vermutet hatte. Man schlägt sich die Stirn am Türrahmen ein.
V.
Es stellt sich die Frage, ob es ein Kindheitsparadies gibt, das man aufgeklärt sein eigen nennen kann. Man kann es erreichen, indem man davon erzählt, indem man benennt, indem man sich abfindet, sich versöhnt. Man kann es wiedererstehen lassen. Mit Marcel Proust auf der Suche nach der verlorenen Zeit lernt man, dass das Gedächtnis nicht unbedingt das Werkzeug dazu ist, sich das Vergangene zum Besitz zu machen. Es kann nicht unser Besitz sein. Die unvermutete, die frei steigende Erinnerung ist der Schlüssel zur tatsächlichen Enthüllung des Vergangenen. Sie dient nicht zur Begründung. Sie schafft keine festgelegten Identitäten. Sie treibt zum Werk und ermöglicht ein Paradies nicht in der Verdrängung, im Erschaffen, einem ewigen Kind sein in der Kunst.
Minnas Glück, Alkmenes Ach.
Gedanken auf den Proben und anderswo zu Karin Neuhäusers Inszenierung der ‚Minna von Barnhelm‘ von Gotthold Ephraim Lessing
Das sächsische Fräulein Minna von Barnhelm steht noch am Anfang der langen Reihe großer Frauenfiguren des klassischen und romantischen deutschen Dramas. Und Minna steht allein. Für lange Zeit wird sie die einzige sowohl intelligente als auch freundliche, die einzige sowohl liebende als auch zuletzt obsiegende Frau sein, die im deutschen Drama ein Recht auf Glück und so überhaupt Zutritt auf die Bühne erhält. Die Liebe, die sie aus eigener Kraft verwirklicht, das Leben, das sie selbstbestimmt entscheidet, macht sie weit über ihre Zeit hinaus zu einer einsamen Erscheinung.
Vor ihr, aber auch sofort nach ihr betreten einfache, keusche, naive und träumende Mädchen das Theater. Die empfindsam Liebenden erscheinen, Frauen, die nicht wissen, wie ihnen geschieht. Käthchen von Heilbronn weiß es nicht, nein, mein gestrenger Herr. Fausts Gretchen – Nachbarin, Euer Fläschchen! – ist, wenn auch geköpft, nicht gerichtet, ist gerettet. Immer wieder wandeln Frauenfiguren somnambul und leider nicht nur treu wie Bohnenstroh durch die Dramen der deutschen Klassik und Romantik. Selbst das tiefe ‚Ach‘ der Alkmene in Kleists ‚Amphytrion‘ entrinnt der scheinbar typisch weiblichen Lage im Drama dieser Zeiten nicht. Die große Liebe widerfährt ihr wie all ihren Schwestern, der Gott kommt als der Gatte oder letztlich der Gatte als der Gott über sie.
Die intelligente Frau hat im Drama der deutschen Klassik Glücksverbot. Sie ist das Opfer der Liebe. Liebend scheitert sie wie Schillers Elisabeth, deren Gegenspielerin Maria büßt erlebte Liebe auf dem Richtblock. Penthesilea, Königin der Amazonen verliert in Raserei den Verstand und tötet unwissentlich den Geliebten. Die Keusche hingegen überlebt. Iphigenie befreit sich aus der barbarischen Gesellschaft. Priesterin im Zölibat der Artemis bleibt sie ein Leben lang.
Die intelligente Frau darf auf dem Theater der Klassik auch bösartig sein. Sie darf obsiegen, wenn der Erfolg auch Stückwerk bleiben muss. Auch ihr wird Liebe nicht zuteil. Bestenfalls Rache gelingt, wie, halbwegs, die der Orsina aus Lessings ‚Emilia Galotti‘. Unrecht Gut gedeihet nicht. Niemals darf sie in den verweilenden Genuss der Liebe kommen oder gar in eine Beziehung mit Zukunft münden.
Was im Stück geschah: der preußische Militär Major von Tellheim hat die sächsischen Stände unmittelbar nach dem siebenjährigen Krieg mit einem Akt riskanter Zivilcourage gerettet. Schon als Minna von Barnhelm von seiner Tat nur hört, ist sie zu diesem Mann entschlossen. Sie erscheint auf einem Empfang, um ihn leibhaftig kennen zu lernen. Man tanzt miteinander, spricht sich, lernt sich kennen. Minna weiß, dass sie sich – wie es letztlich doch immer geschieht! – zunächst in eine Projektion verliebt hatte. Aber die Liebesgeschichte wird auch in der Wirklichkeit möglich. Major von Tellheim und Minna tauschen die Ringe zum Eheversprechen. Der Verlobte reist nach Berlin, wo er von der Kriegskasse der Veruntreuung angeklagt wird. Der Akt der Zivilcourage ist den Siegern verdächtig. Der ins Unglück geratene Tellheim bleibt verschollen.
Minna weiß nicht Genaues. Aber sie fürchtet um ihren Major von Tellheim. Sie macht sich auf eine riskante, eine unerhörte, eine fast verbotene Reise.Ohne Wissen ihres Oheims reist sie mit ihrer Kammerzofe Franziska in die nicht ungefährliche Metropole der Nachkriegszeit, nach Berlin. Sie führt eigenverantwortlich das Steuer ihres Schiffes, der Ausgang der Reise aber ist höchst ungewiss. Vielleicht reist sie, um einen Mann zu finden, der nun erst jenseits aller Projektionen wirklich kennen gelernt werden kann. Erst, wenn man den anderen wirklich kennt, kann sich die Verliebtheit in Liebe wandeln. Und wenn es nun noch zum Eheschluss kommen soll, dann wird man sich kennen.
In einem Vorstadtgasthof führt ein Zufall die Liebenden zusammen. Die Liebe ist beiderseits ungebrochen, aber Tellheim, verwundet, krank, angeklagt und mittellos, kann es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, eine junge Frau in seinen Untergang mitzureißen. Minna beschließt zu handeln.
Minna kämpft mit den Waffen der Rede, der Kritik, des Dissens und der Analyse. Und sie kämpft mit der Waffe der Dramaturgie; in Intrigen und einem kleinen Drama, zur Belehrung des verstockt unglücklichen Verlobten aufgeführt. Ihr Sieg ist ungewiss. Sie ist ganz und gar alleine in diesem Kampf. Und sie siegt. In Lessings Stück erleben wir keine feindliche, eine freundliche Übernahme. Es ist ein Sieg einer Aufklärung, die die Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Handlungsvorschriften als Konventionen entlarvt. Wir erleben eine kreative, eine spielerische, gar eine schauspielernde Kriegsführung der Geschlechter. Es geht nicht um Interessen. Es geht um Ideale. Es geht um Verantwortungen, um Positionen. Und es geht darum, das all die ins Feld geführten Zwänge und Selbstverpflichtungen einer chimärenhaften Männerehre vor der Macht der Liebe keinen Bestand kennen sollten.
Man emanzipiert sich zur Liebe, das ist die Lektion die Minna von Barnhelm uns heute noch erteilen kann. Aber auch Gleichheit allein ist nicht das feste Band der Liebe. Der Dissens, das Gespräch, die Kritik und das Spiel halten die Fahrt auf dem Liebes- wie auch dem Ehekarussell frisch und freudig. Das feste Band der Liebe – das ist ist der lebendige, immer wieder erneuerte, modifizierte, geänderte, in stetem kreativen Entstehen sich fortbewegende Vertrag zweier erwachsener, zweier emanzipierter Menschen.
Lessing war 1767 und unmittelbar nach Fertigstellung der ‚Minna‘ gerade in Hamburg angekommen, als er zugleich mit dem Hamburger Kaufmann Engelbert König auch mit dessen Frau Eva Freundschaft schloss. Eine Frau, wie er sie mit Minna geträumt hat, tritt ihm in Eva König leibhaftig entgegen. Eine tiefe Freundschaft entsteht, aus der vielleicht noch zu Lebzeiten des Gatten beiderseits uneingestandene Liebe wird. Als Engelbert König stirbt, will Lessing für das Wohl von Eva König und ihren Kindern sorgen. Möglicherweise gibt dies Lessing sogar den Ausschlag, das Angebot der Bibliothekar-Stelle in Wolfenbüttel anzunehmen. Die Witwe Eva König und Lessing gehen noch lange getrennte Wege. In Briefen sprechen sie sehr vorsichtig ihre Liebe an. 1771 verloben sie sich. Lessing geht nach Wolfenbüttel. Er adoptiert zuerst die Kinder des Freundes. Eva König hingegen reist durch Europa, um ihren Kindern das Vermögen ihres verstorbenen Gatten zu erhalten. Sie wird nicht nur zu einer der ersten erfolgreichen und anerkannten Kauffrauen auf internationaler Ebene. Sie wird eine der ersten vollständig emanzipierten Frauen ihrer Zeit. Lessing und Eva König sehen sich immer wieder, in Wien und anderen Orts. Ihre Briefe sprechen eine ähnliche Sprache wie die der Verhandlungen Minnas und Tellheims. Sie sind geistreich, heiter, vorsichtig, kritisch, kreativ und wahrheitsliebend und werden auf dieser Basis immer zärtlicher. Schließlich heiraten sie 1776 in Wolfenbüttel. Briefe und Quellen zeichnen das Bild lebensfrohen, spielerischen, heiteren und unbeschwerten Eheglücks. Aber dem Paar ist nur ein einziges frohes Jahre Seite an Seite vergönnt. Bereits mit dem Jahreswechsel 1777 – 1778 tritt die Katastrophe ein. Der erste gemeinsame Sohn überlebt die Zangengeburt nicht. Die vierzigjährige Mutter überlebt ihr Kind nur um wenige Tage.
Lessing schreibt am 31. Dezember 1777 an den Freund Eschenburg:
Ich ergreife den Augenblick, da meine Frau ganz ohne Besonnenheit liegt, um Ihnen für Ihren gütigen Anteil zu danken. Meine Freude war nur kurz: und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! – Glauben Sie nicht, dass die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. – War es nicht Verstand, dass man ihn mit eisernen Zangen auf die Welt ziehen musste? Dass er so bald Unrat merkte? – War es nicht Verstand, dass er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freilich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! – Denn noch ist wenig Hoffnung, dass ich sie behalten werde. – Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen! Aber es ist mir schlecht bekommen.
Am 10. Januar 1778 an Eschenburg:
Meine Frau ist tot; und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, dass mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen, und bin ganz leicht. – Auch tut es mir wohl, dass ich mich Ihres, und unserer übrigen Freunde in Braunschweig, Beileids versichert halten darf.
Wir können in ihren Briefen das Gespräch der Liebenden verfolgen – von der ersten Annäherung, dem Eingeständnis, durch das kluge und vorsichtige Entwickeln eines wirklichen Verständnisses des Anderen zu der ganzen Natur ihrer Beziehung. Und wir erleben die Entstehung dessen, was man heute eine Patchwork.Familie nennen würde: die Entstehung einer selbstbewussten Familie, deren Mitglieder wissen, dass es nicht die Blutsbande sind, sondern die filigranen Bänder und Beziehungen einer sich stets aktualisierenden Liebe und und eines sich stets erneuernden Gesprächs in Intelligenz, Kritik und Spielfreunde, die einer Liebe, einer Ehe und einer Familie die haltbarsten Bänder zu geben in der Lage sind.
Wir sind aufgeklärt. Die Patchwork-Familie, zu Lessings Zeiten ein Unding, ist heute gesellschaftliche Realität. Aber wir wissen trotzdem, dass uns noch einiges zu tun bleibt, bevor wir ganz und gar würdig sind, mit dem sächsischen Fräulein auf einer Bettkante im schlechtesten aller Gasthöfe Freiheit, Emanzipation, Liebe, Glück und Kartoffeln zu teilen. Die Arbeit der Schauspieler auf den Proben verfolgend, oder, auf Gastspiel mit Karin Neuhäusers Inszenierung von Shakespeares ‚Was Ihr wollt‘ in Wolfenbüttel zu Gast und dort in Eva Königs Sterbezimmer aus dem Fenster sehend, fällt mir zumindest im deutschen Drama kein weiteres Fräulein, auch keine weitere Frau mehr ein, die so modern lieben, alleine stehen, intelligent kämpfen und dennoch aufgeklärt obsiegen könnte wie Minna von Barnhelm.
Aus den Proben zu ‚Minna von Barnhelm‘ von G. E. Lessing
Fotos von Peter Kapusta.
Darum reisen wir!
Die Fahrten des kasachischen Regisseurs Bolat Atabayev
Reisen ist für uns eine Form des Dialogs. Wir reisen, um Fragen zu stellen und Fragen zu beantworten. Das Reisen gehört für das Theater an der Ruhr zu den zentralen Aufgaben eines politischen Theaters.
Der kasachische Regisseur und Gründer des Theaters ‚Aksaray‘, Bolat Atabayev, ist oft zu uns gereist. Mit eindrücklichen Aufführungen wie zum Beispiel ‚Lady Milford aus Almaty‘, das er schrieb und inszenierte, konnte er das deutsche Publikum begeistern. Ebenfalls ermöglichte er uns unvergessliche Reisen, 2001 gar eine Tournee durch vier zentralasiatische Staaten. In seiner Heimatstadt Almaty., der Hauptstadt Kasachstans, dem früheren Alma Ata, zeigten wir unter anderem ‚Kaspar‘ von Peter Handke.
Aber nun ist Bolat Atabayev fast zu einem hauptberuflich Reisenden geworden. Heute reist er mit kleinem Gepäck. Wo und ob er ankommen kann, ist fraglich. Schon die Rückkehr von seiner Reise ist ein Problem, denn er trägt eine Frage durch Europa, auf die er in seiner Heimat außer Verfolgung und Gefängnis keine Antwort erhalten wird. Seine Frage ist schnell gestellt und eigentlich auch schnell zu beantworten: Am 16. Dezember 2011 wurden zwölf protestierende Arbeiter auf den Ölfeldern bei Aktau in Kasachstan durch Polizei und Militär erschossen. Wer gab den Schießbefehl?
Der Präsident Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, gilt als unberührbar. Er war zunächst Vorsitzender des Ministerrats der Kasachischen Sowjetrepublik und vom 22. Juni 1989 bis zum 28. August 1991 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik gewesen. Am 24. April 1990 wurde er durch den Obersten Sowjet Kasachstans zum Präsidenten der Sowjetrepublik gewählt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ließ sich Nasarbajew im nunmehr unabhängigen Kasachstan am 1. Dezember 1991 für zunächst fünf Jahre in seinem Amt bestätigen. Seitdem herrscht er über das Land. Bei seiner Wiederwahl 1999 erreichte er 80 Prozent, 2005 gar 91 Prozent der Stimmen. Nachdem sein Versuch scheiterte, sich für weitere 20 Jahre als Präsident bestätigen zu lassen, fanden am 3. April 2011 vorgezogene Neuwahlen statt. Nasarbajew wurde mit 95,5 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa beobachtete bei der Wahl ‚gravierende Unregelmäßigkeiten‘. Nasarbajew pflegt eine sowohl Russland wie dem Westen gegenüber kooperative Politik. Der Öl- und Rohstoffreserven seines Landes wegen hofiert ihn der Westen. Er und seine Familie genießen rechtliche Immunität vor Strafverfolgung.
Ab dem Mai 2011 beginnen Arbeiter auf den Ölfeldern um Aktau und die Stadt Schanaosen zu streiken. Etwas ähnliches wie Tariferhöhungen sind in Kasachstan unbekannt. Ihre Forderung ist nach hiesigen Maßstäben mehr als bescheiden: zumindest Mindestlöhne sollten für ihre Arbeit zur Auszahlung kommen. Bolat Atabayev besucht die Streikenden und erklärt sich mit ihren Forderungen solidarisch. Auch die nicht zugelassene Partei ‚Alga‘ des Oppositionspolitikers Wladimir Koslow solidarisiert sich. Der Streik bleibt zunächst ohne Erfolg. Am 16. Dezember 2011 werden Aufstände in der kaspischen Hauptstadt blutig niedergeschlagen. Zwölf Menschen werden erschossen, es gibt hunderte von Verletzten.
Die Kasachische Staatssicherheit KNB ermittelt – aber beileibe nicht gegen die Täter, sondern gegen die protestierenden Oppositionellen. Bolat Atabayev wird drei mal verhört. Nachdem er mit Berufung auf seine Gesundheit die 3500 Kilometer lange Reise von Almaty zum Verhör nach Aktau nicht antritt, wird er am 15. Juni 2012 in seinem Haus von drei Männer verhaftet. In Aktau wird er inhaftiert.
Im August 2012 sollte Bolat Atabayev in Weimar die Goethe-Medaille für sein künstlerisches und politisches Engagement in Weimar in Empfang nehmen. Es sah nun ganz so aus, als könne er nicht reisen. Es kam zu vehementen Protesten nicht nur vor der kasachischen Botschaft in Berlin.Der Regisseur Schlöndorff, aber auch Markus Löning, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, ergriffen Partei. Auch Roberto Ciulli protestierte nach Berlin und mit einem offenen Brief.
Im August entlässt man ihn aus der Haft. Bolat Atabayev nimmt den Preis in Weimar entgegen. Dann geht er auf auf Tournee. Ohne Theater, nur mit seiner einfachen Frage. In Moskau spricht er vor Oppositionellen, auf einem Freiheitsforum in San Francisco. In Brüssel sucht er Europaabgeordnete auf.
Die Süddeutsche Zeitung meldet am 16. Oktober 2012 die Verurteilung Wladimir Koslows , Gründer und Leiter der Partei ‚Alga‘, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Aufruf zum Sturz der Regierung, Gefährdung der nationalen Sicherheit und Anstiftung zu sozialem Unfrieden. Was Bolat Atabayev droht, sollte er in seine Heimat zurückkehren, ist damit klar bezeichnet. Er wird desselben angeklagt.
Aber Bolat Atabayev fährt zunächst noch nicht nach Hause. Er plant eine Reise nach Genf. Dort kann er die Frage ein weiteres mal öffentlich stellen, die der Bürger einer Zivilgesellschaft einem demokratisch gewählten Präsidenten seines Landes stellen können muss: ‚Herr Präsident, wer gab den Schießbefehl am 16. Dezember 2011?
Foto von Barbara Fraenkel-Thonet
Laudatio zur Verleihung der Goethe Medaille an Bolat Atabayev
von Helmut Schäfer, Mitbegrüner, -Leiter und Dramaturg des Theaters an der Ruhr
Lieber Herr Präsident Klaus Lehmann, verehrte Gäste, liebe Preisträger, lieber Bolat Atabayew!
Daß ich heute hier stehen darf, um das Wort an Dich und die versammelten Gäste zu richten, lieber Bolat, freut mich außerordentlich und ich möchte die Gelegenheit nicht vorbeiziehen lassen, dem Gremium, das die Entscheidung getroffen hat, Dir die Goethe-Medaille zu verleihen, meinen Respekt zu zollen.
Mit diesem Preis werden Menschen geehrt, die unter anderem über die Fähigkeit verfügen, die deutsche Kultur und ihre Sprache in anderen Ländern zu vermitteln.
Ein Vermittler bist Du und was für einer! Wir haben das mit dem Theater an der Ruhr erfahren. Der ein und andere der Zuhörer hat vielleicht vor Jahren wahrgenommen, daß wir in den späten 90er beginnend ein Projekt verfolgten, das unter dem Titel „Seidenstraße“ firmierte.
Das Theater bewegte sich mit seinen Inszenierungen entlang der alten Route der Seidenstraße und lud wiederum Theater aus diesen Ländern nach Mülheim an der Ruhr und in andere Städte der Bundesrepublik ein, um dem interessierten deutschen Publikum die Möglichkeit zu geben, die Theaterkunst und Kultur dieser Länder näher kennenzulernen.
Dieses Vorhaben zur realisierten Praxis werden zu lassen, wäre ohne die Vermittlungsfähigkeit von Bolat Atabayew so nicht möglich geworden. Wieso, mögen Sie fragen?
Es handelte sich nicht darum, wie ein Außenstehender leicht denken könnte, ausschließlich Kontakte zu der Region Zentralasiens und ihren Theatern zu knüpfen, die zumindest zu dieser Zeit noch nicht so leicht herzustellen waren, wie es heute gehen mag. Vernetzung war nicht unser erstes Ziel. Und Dir ging es ohnehin um mehr: nämlich die Substanz dessen zu vermitteln, was Du in unserer Arbeit vorgefunden hast, was Dein Blick ihr entnahm, die, wofern sie denn gelang, notwendig auch Rätsel barg.
Du hast das kaum Mögliche versucht und das können nur autonome Künstler. Einem Satz Adornos zufolge ist der Wahrheitsgehalt von Kunst als Rätsel in fensterlosen Monaden verborgen, wir sehen sie nicht und sie selbst winken uns nicht aus ihrer fremden Ferne zu.
Die Begriffe Theater und Theorie sind im Griechischen verwandt, gemeinsam ist ihnen die Anschauung, also das, worüber Du in einem hohen Maße verfügst, anschauen und wahrhaft anhören zu können. Schauen, meinte Aristoteles, führe zum Glück, die Glücklichen seien Schauende wie die Götter, von deren Existenz er denn doch nicht restlos überzeugt war.
Oft habe ich Dein Schauen – Können während unserer Proben, denen Du vor Jahren immer wieder beiwohntest, erfahren.
Anschauung stiftet jene Inhalte der Erfahrung, deren die Erkenntnis bedarf und nicht selten ist das Ergebnis gelungener Erkenntnis ambivalent.
Jetzt dürfen wir den anwesenden Gästen etwas aber nicht verschweigen, das Dein Denken und Handeln leitet: Du gehörst zu der Spezies der Initiatoren, die etwas Neues beginnt, begründet, Du bist ein Gründer, eine Eigenschaft, die zum Wesen eines Regisseurs hinzugehört. Nicht von Läden oder Firmen, das würde keiner unterstellen, sondern von Theatern und Inszenierungen. Mit gegründet hast Du das deutsche Theater in Almaty, dann Deine eigene Theatergruppe „Aksaray“ und das Theater, was wir gemeinsam planten und das auf seine Geburt immer noch wartet.
In zahllosen Gesprächen, deren Motor Du häufig warst, hatten wir die Idee geboren, ein multinationales Theater der Länder dieser Großregion zu gründen, um den aufkommenden Nationalismen nach der Befreiung von der Sowjetherrschaft einen Weg vorzuschlagen, der diesen Rückfall verhindern könnte.
Wir wußten, daß ein Theater, das sich national versteht, nichts von der Substanz seiner eigenen Kunst begriffen hat, denn deren Tierkreiszeichen kann nur der Bastard sein. Dieses multinationale Theater hätte das Prinzip des Reisens, mit dem die europäische Aufklärung anhob, zu seinem leitenden Inhalt erhoben. Aufklärung allerdings als heitere, die sich der Ambivalenz aller Wahrheit stets bewußt bleibt, der bloß zweiwertigen Logik von ‚Wahr‘ und ‚Falsch‘ den Laufpaß erteilt und den dritten Wert, ‚Nicht – Falsch‘, als Voraussetzung der conditio humana bedingungslos akzeptiert.
Daß Du heute hier sein kannst, wir waren uns vor Wochen dessen überhaupt nicht gewiß, ist für uns alle ein großes Geschenk und sicherlich die Folge einer mehrwertigen Logik.
Einer Bemerkung Marx‘ zufolge setzt Kritik Solidarität voraus. Der die Regierung Kasachstans kritisierende Bolat Atabajew war mehrfach solidarisch, den streikenden Ölarbeitern gegenüber, denen er beistand, und durch seine öffentliche Kritik dem Staat gegenüber, der auf sie schießen ließ, des Risikos, in das er sich begab, bewußt.
Und er wußte auch, daß autoritäre Strukturen eine verbissene Überlebensfähigkeit haben.
Am 29. Mai, also nicht lange vor Deiner Inhaftierung, schriebst Du uns, daß Du derzeit Bertolt Brechts „Kleinbürgerhochzeit“ inszenieren würdest. Das war sicher keine zufällige Entscheidung.
Menschen, die sich autoritärer Strukturen bedienen und darin sich wohl fühlen wie der Fisch im Wasser, sind aller Erfahrung nach Kleinbürger, dies ist längst keine soziale Schicht mehr wie noch im neunzehnten Jahrhundert, sondern eine mittlerweile geschichtsmächtig gewordene Mentalität, ein tertium comperationes der gegenwärtigen Menschheit, über alle Grenzen hinweg. Nationalismus ist dieser multinationalen Gattung selbstverständlich.
Zur Signatur des Kleinbürgers gehört zuvörderst der Stolz auf die eigene Beschränktheit. Ambivalenz, von der die Rede ist, ist ihm ein wahres Grauen, nur das Eineindeutige kann er ertragen. Verfolgt wird alles Nichtidentische, das sich dem Zugriff verweigert – und zugreifen möchte er. Alles soll gleich sein, was dem widersteht, erzeugt Angst, die nicht selten in Gewalt umschlägt. Aber nicht Gewaltlosigkeit ist das Gegenteil der Gewalt, sondern das Recht, das der Willkür den Weg versperrt. Schon die Orestie des Aischylos, nun sind wir wieder beim Theater, beschreibt den Weg von der Rache Einzelner zum souveränen Recht. Das Recht ist dem Kleinbürger grundsätzlich suspekt, er empfindet es ausschließlich als Beschränkung, zudem es der Deutung bedarf, ambivalent und nicht eindeutig ist. Das ändert sich nur, sobald er die Gelegenheit wittert, als Kläger aufzutreten. Dann Gnade uns Gott.
So wurdest Du, lieber Bolat, in Gewahrsam genommen wegen ‚Anstiftung zur sozialen Unruhe‘ und, wie Du an jenem 29. Mai schriebst, als ’Mitglied einer organisierten kriminellen Vereinigung‘. Eine Anklage auf Verdacht. Hegel analysierte den Terror zur Zeit der französischen Revolution als die ‚Herrschaft des Verdachts‘, dem Verdacht kann sich keiner erwehren, er kennt keinen Gegenbeweis. ‚Mitglied einer kriminellen Vereinigung‘! Häufig sind die Phantasien der Mächtigen absurd und geben sich der Lächerlichkeit preis, deshalb bediente sich das aufklärerische Denken gerne der Satire, Komik befreit. Die wenigen erhaltenen Satyrspiele der Antike künden schon davon.
Deine Inhaftierung führte zu Protesten in vielen Ländern, viele der Versammelten hier, vor allem das Goethe -Institut selbst, haben sich daran beteiligt.
Gegen jenes autoritätssüchtige Kleinbürgertum hast Du Dich gestemmt, auf deine Fähigkeit des Vermittelns vertrauend, um in Deiner Heimat etwas Anderes zu begründen: eine offenen Geist, der den Gestus des selbstverständlichen Gehorsams abstreift, damit, wie Du uns schriebst, Deine „Enkelkinder in einer normalen Zivilgesellschaft leben können.“
Nun sitzt Du unter uns und der Präsident des Goethe-Instituts wird Dir heute die Goethe-Medaille verleihen, was für ein Glück!
Denn: „Die Zeiten des Glücks sind die leeren Blätter der Weltgeschichte“, befand Hegel in seiner Philosophie der Geschichte.
Wir schreiben diese Blätter nun seit langem bis an die Ränder voll und mittlerweile mit einer Geschwindigkeit, der wir längst nicht mehr Herr sind.
Stattdessen sollten wir zukünftig, wie Bolat Atabajew, Theater gründen.
Herzlichen Glückwunsch!
Ein Brief von Bolat Atabayev an das Theater an der Ruhr
Liebe Kollegen! Lieber Roberto!
Es geht mir gut! Das, was Sie gelesen haben, ist nur ein Teil meines Lebens. So sind die heutigen Aussichten: zu Hause bin ich ein Verbrecher, im Ausland eine herausragende Person! Gerecht nach Gewissen zu leben ist mir lieber als gerecht nach Situationen zu existieren. Das ist meine bewusste Wahl. Ich kann nicht anders. Es kommen die Zeiten, wo man den kollektiven Gestank als Einheit des Geistes wahrnimmt. Mein Ziel ist, dass meine drei Enkelkinder in einer normalen zivilisierten Gesellschaft leben. Man wird nicht sagen: ja, ihr habt ein schweres Leben gehabt, man wird fragen, wo waren ihre Poeten. (B.Brecht)
Im Kasachischen sagt man oft: das Leben sei ein Fluss und wir schwimmen darin, aber man wird vom langen Schwimmen müde, und da bestimmt man sein Ufer und holt Atem, um Kraft zu schöpfen. Das Theater an der Ruhr war und ist ein Ufer meines Lebens! Million mal Danke dafür! Der Gerichtsprozess beginnt Mitte Juni des laufenden Jahres. Seit dem 23.Januar bin ich Angeklagter nach dem Artikel „Aufhetzung der sozialen Zwietracht“ und „Mitglied einer organisierten kriminellen Gruppe“. Das alles wegen meiner Streikunterstützung der Ölarbeiter in Westkasachstan. Die haben seit Mitte Mai bis zum 16. Dezember 2011 (sieben Monate) friedlich gestreikt. Und am 16. Dezember wurden sie von den bewaffneten Polizisten erschossen und auseinander gejagt. Dabei sind 17 gestorben und über 100 verwundet. Und bis heute weiß man nicht, wer zu schießen befohlen hat! Absurd!
Am 14. Mai habe ich mein 60. Geburtstag gefeiert. Und jetzt probe ich „Die Kleinbürgerhochzeit“ von B.Brecht.
Viele Grüße an alle Kollegen!
Nachtrag
Freunde von Bolat Atabayev unterhalten eine Facebook Seite. Sie finden Sie hier.
Probenbeginn: Woyzeck von Georg Büchner
Es war einmal ein arm Kind und hatt‘ kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum. Und wie’s zu den Sternen kam, waren’s kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie’s wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.
Georg Büchner
Fotos aus den Proben im Probenraum an der Ruhrortter Straße von Peter Kapusta.
Reise nach Irak-Kurdistan vom 4. bis zum 16. April 2012
Den Flughafen in Erbil bevölkern bei unserer Ankunft in den frühen Morgenstunden des 5. April 2012 vor allem heimkehrende Pilger aus Mekka. In weißen Gewändern stehen Gruppen von Männern beieinander, die Frauen haben auf dem spiegelblanken Marmorboden der Ankunftshalle Platz genommen. Alle führen halbtransparente Kanister gefüllt mit Wasser vom Heiligen Brunnen Zem Zem in Mekka mit sich. Neben den Koffern, oft auch auf freier Fläche, stapeln sich Pyramiden dieser Kanister, in oranger und blauer Schrift bedruckt. Manchmal ist in englischer Sprache peace of mind auf ihnen zu lesen. Am Morgen der Rückfahrt zwölf Tage später sehen wir diese Kanister wieder. Viele von ihnen kreisen unabgeholt auf dem Gepäckband des Düsseldorfer Flughafens.
Den Brunnen Zem Zem kenne ich als deutsches Kind der fünfziger Jahre aus den Romanen Karl Mays. Wir aus Deutschland kennen Kurdistan fast ausschließlich von Karl May. Vielleicht sympathisierten wir in den achtziger Jahren auch deshalb so begeistert mit dem Freiheitskampf der Kurden. Die Winnetou-Filme mit Lex Barker und Pierre Briece waren der Ersatz für den unmöglich gewordenen Heimatfilm, vielleicht wurden uns die realen Kurden ein Ersatz für die Indianer im Kino. Der morgendliche Blick über grüne kurdische Berge, Storchenflug und Storchennester auf den Masten der elektrischen Überlandleitung hebt das Herz ganz in diesem Sinne, ich habe es erfahren.
Diese Sympathie wird uns dort zu Lande übrigens real und authentisch vergolten, man dankt sie den Deutschen als engen Freunden, gar Brüdern des kurdischen Volkes. Der etwas bedrückende Gedanke liegt nahe – vielleicht sind wir unsererseits den Kurden eine Art Kino-Alternative zu wirklichen Brüdern und Freunden. Vielleicht hat das positive Bild des Anderen auch auf kurdischer Seite einen Hauch von Karl May, so fremd er den Kurden sonst sein dürfte.
Das Theaterabenteuer aber, das wir in diesen Tagen erlebt haben, war durch und durch real. Wir erfuhren warmherzige Freundschaft, einzigartige Gastlichkeit und eine unvermutet große Begeisterung für unsere Arbeit. Wir selbst waren und sind begeistert. Wir erinnern uns, wir erzählen mit roten Wangen, so dass nun selbst die erlebte Wirklichkeit eine Qualität der Lektüre von Karl May bekommt. Der jahrelangen vorbereitenden Arbeit unseres Kollegen Ferhade Feqi und seinen kurdischen Gesprächspartnern Omer Tuvi, kurdischer Schauspieler aus Berlin, Masud Arif Theaterdirektor der Stadt Dohuk und dem Kulturdezernenten der Stadt Dohuk, Adel Hesen, danken wir eine der schönsten Reisen des Theaters an der Ruhr seit seinem Bestehen. Ihnen allen, auch den hier nicht genannten kurdischen Freunden und Helfern, zuvörderst von ganzem Herzen Dank!
Auf unserer Reise, die uns eine Überfülle von Eindrücken schenkte, haben wir zwei oftmals einander widersprechende Aspekte eines Landes, eines Volkes und einer politischen Situation kennengelernt. In zwei Städten, die wir besuchten, im nördlich gelegenen Dohuk wie in Erbil im Süden. In Dohuk dominieren die um diese Jahreszeit grünen Berge, in Erbil vermeint man Wüstennähe zu spüren. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte.
Irakisch Kurdistan – das scheint für die Kurden eine erst halb erfüllte, aber schon als vollkommen erlebte Utopie, eine Art Freiheit auf Kredit. Das von einstmals von Saddam Hussein geschundene Land – die Wunden sind kaum vernarbt – ist nun eine autonome Region des Irak. Die Untergrundarmee der Peschmerga nimmt heute Polizeiaufgaben war. Ihre Posten sind allgegenwärtig. Sie wirken auf den Fremden übrigens in keiner Weise bedrohlich, die bewaffneten Soldaten sind freundlich, höflich distanziert und in jeder Lage korrekt. Sie garantieren dem Fremden Angstfreiheit und dem Einheimischen geschützte Demokratie auch in einer noch immer und immer wieder brisanten Situation. An den Kontrollposten ist immer wieder das Foto eines prominenten kurdischen Führers in Peschmerga Uniform zu sehen, der lächelnd und mit erhobenen Händen die Kontrolle auf versteckte Waffen über sich ergehen lässt. Ein Schild am Nationaldenkmal des kurdischen Volkes in Dohuk verbietet das Wegwerfen von Tempotaschentüchern, das Ausspucken und Sonnenblumenkernen und das Mitführen von Handfeuerwaffen. Vom Berg Sahua aus betrachten wir die Stadt Dohuk, die der freundliche Frühlingsabend bald in ein Lichtermeer verwandelt. Sie ist seit den Zusammenbruch des Baath-Regimes um ein Drittel größer geworden.Viele Kurden kehren jetzt aus dem Exil zurück – wie uns einige junge Kurden aus Schweden oder Frankreich sagen, ihrer kleinen Kinder wegen: wenn sie jetzt nicht zumindest für einen Teil des Jahres nach Kurdistan zurückkehrten, würden sie niemals mehr lernen können, dort zu leben, Kurden zu sein. Die Wirtschaft boomt, der Wohlstand wächst.
Man grenzt sich selbstbewusst ab. Iraker dürfen die Grenze zu Kurdistan nur überschreiten, wenn ein mitreisender Kurde persönlich für sie bürgt. Denn die Lage bleibt brisant und wird brisanter.
Kurdistan, die autonome Region, das in den Augen seiner Bewohner freie und unabhängige Kurdistan, ist neuerdings aus mehreren Gründen in Fokus der Westmächte und der Globalisierung gerückt. Das Gebirgslands, das nun im Frühling grün ist und den Reisenden gelegentlich fast an die Schweiz erinnern könnte, liegt im Herzen des Orients. Das kurdische Volk steht dem Islamismus mehr als distanziert gegenüber und ist wohl der einzige Teil der irakischen Bevölkerung, der das Resultat des zweiten Golfkrieges wirklich als Befreiung erleben kann. Und Kurdistan hat Öl. Das schafft die Basis für politische Hoffnungen des Westens, die wohl weniger politische als vielmehr wirtschaftliche Hoffnungen sind.
Die Globalisierung kommt zu Besuch nach Kurdistan und bringt Geschenke mit. Viel Geld strömt ins Land. Shopping Malls nach amerikanischem Vorbild schießen aus dem Boden. Vielleicht will sich der Westen dort eine zweite, eine orientalische, eine ölhaltige Schweiz schaffen, eine Schweiz, deren Vorteile sie, erst in zweiter Linie die Einheimischen genießen sollen. Einen Brückenkopf wie die Schweiz, der allerdings nicht schweizerisch neutral sondern im Interesse der USA neutral bleibt. Ein Orient fast gegen die islamische Welt könnte intendiert sein. Das Interesse der Kurden an nationaler Unabhängigkeit lässt sich vor manchen sehr schweren, manövrierunfähigen Karren spannen, den nicht die Kurden in den Graben gefahren haben und den aus dem Dreck zu ziehen für das kurdische Volk auch bei Gelingen seine Gefahren hat.
Der Irak hängt wie ein solcher Karren an dem sich dynamisch entwickelndem Land. Die Zentralregierung in Bagdad dankt der autonomen Region diese Vorteile nicht. Sie hindert das kurdische Volk immer wieder offensiv an der Wahrnehmung seiner wirtschaftlichen und politischen Interessen. Diese Situation ist nicht ungefährlich. Die Kurden trauen dem Frieden nicht. Welchem Frieden denn auch? Das ist ein weiterer realistischer Sinn der zahllosen Militärposten – auch auf den Berggipfeln.
Das viele Geld trifft ein Volk das zum großen Teil ein Agrarvolk ist. Zudem ist es ein Volk, dessen Geschichte von Unterdrückung und Ausbeutung geprägt ist. Dieses Geld trifft zerstörerisch auf gewachsene, funktionierende Strukturen, schafft neue Strukturen, die fragwürdig sind – und läuft an der vitalen Kultur des kurdischen Volkes vorbei.
Kultur ist in Kurdistan ein großen Thema. Musik, Literatur, Film und auch Theater spielten eine große Rolle im Befreiungskampf wie im Exil und spielen sie noch bei der Bildung einer kurdischen Identität, eines Selbstverständnisses der Kurden. Die Kurden wissen viel von Kultur, brauchen sie, fördern sie und leben in ihrer Kultur. Man begeistert sich in Kurdistan für Kultur. Kultur ist in Kurdistan bedeutend populärer als bei uns, so muss man es sagen. Betritt man allerdings zum Beispiel in Erbil eine kurdische Shopping Mall, dann sieht die Kultur auch in Kurdistan plötzlich ganz alt aus. Kultur: das ist dort plötzlich etwas hoffnungslos gestriges.
Dohuk
Kultur wird von Begeisterten gemacht, das Engagement für Kultur vereint in durch alle Schichten. Sie ist eine Sache des generellen bürgerschaftlichen Engagements, ein vitaler Faktor lebendiger Demokratie. Die Begeisterten sind allgegenwärtig. Der Theaterdirektor der Stadt Dohuk ist Hochschulleiter, ebenso Regisseur wie Schauspieler wie auch ein Filmemacher von Bedeutung, Koffer und Scheinwerfer hängt und trägt er auch wie selbstverständlich. Der Kulturdezernent der Stadt Dohuk, Adel Hesen, übrigens einer der bedeutendsten Kulturpolitiker des gesamten Irak, lädt die Gäste in seinen Garten ein. Nicht zum Kaffee, zum Mittagessen oder auf den Abend, sondern für einen ganzen Tag bis in die Nacht, ein Tag, den man am Feuer plaudernd bis in die Nacht verbringt, an dem man sich zum Mittagsschlaf oder auf einen Spaziergang zurückziehen kann, ein Tag an dem der Nachschub von Köstlichkeiten nicht abreißt und der in jeder Hinsicht als etwas Köstliches erlebt wird.
Wanderer, kommst Du nach Dohuk…Es ist einfach eine tolle Unterbringung im Jiyan Hotel! Das kurdische Frühstück kennt eine Spezialität: es gibt zwei Arten von Kajmak, Sahne von Schafsmilch, eine in fester, eine in cremiger Textur. Die, bedeckt von einem Löffel Wabenhonig mit einem Stück Wabe, dazu Fladenbrot… Unvergesslich! Die Freundschaft wird Feiern und Festen bekräftigt. Jeder bekommt ein Geschenk. Roberto Ciulli nimmt man gar die abgetragen schwarzen Schuhe ab, wie man sagt, um sie im Museum von Dohuk auszustellen, und schenkt ihm ein paar hoch eleganter neuer schwarzer Slipper, nach seinem Geschmack den Alten täuschend ähnlich.
Man bietet uns ein wunderbares Ausflugsprogramm. Wir reisen in die atemberaubende Gebirgslandschaft, in die alte Stadt Almedya, uneinnehmbar inmitten grüner Weiden auf einem Hochplateau gelegen – und immer wieder in die kurdische Geschichte. Wir besichtigen eine Festung, in der vor weniger als zwanzig Jahren tausende kurdischer Männer mit Steinen erschlagen wurden, um Munition zu sparen. Dort soll eine Gedächtnisstätte und ein Museum entstehen. Die kurdischen Berge waren nicht immer kahl. Die Bomber Saddam Husseins haben die Wälder abgebrannt. Giftgaseinsätze waren kein Einzelfall. In der wunderschönen Natur wird von Genuss frischen Quellwassers dringend abgeraten. Es ist noch immer Gift im Wasser, es kann noch immer tödlich sein.
Gelebte Kultur prägt das Stadtbild in Dohuk. Murale Malereien sind allgegenwärtig. Die kleinen, liebevoll ausgestatteten Hochschulen für Musik und bildenden Kunst sind mit Mosaiken, Fresken und bildhauerischen Arbeiten der Studenten geziert.. Die städtische Galerie zeigt eine überraschend moderne und vielseitige Ausstellungen ortsansässiger Künstler. Bauten im öffentlichen Raum werden umdefiniert. Das Polizeipräsidium Saddam Husseins ist heute Sitz der Universität für Geisteswissenschaften.
Dem Theater, in dem wir spielen, geht es allerdings etwas anders. Der Bau ist ebenfalls aus der Zeit Saddam Husseins und wird kaum in Stand gehalten. Die technische Situation des Theaters ist desolat. Es fehlt an allem. Das, was da ist, ist größtenteils kaputt. Man verdient am Theater selbst für kurdische Verhältnisse kaum etwas. Mancher, der dort angestellt ist, weiß, kann und will nichts mehr. Da der Bühnenboden schwarz sein muss, wird er mit bitumenhaltiger Farbe gestrichen, die nicht aushärtet. Auf der Probe kleben die Schuhe der Schauspieler fest.
Wir sind nur mit Kostüm und Maske gereist, der Transport der Dekoration wäre viel zu teuer gewesen. Nun improvisieren wir aus dem Vorhandenen. Unsere Vorstellungen sind ästhetisch von materiellen Grundlagen weitgehend emanzipiert. Die Begeisterung auch Außenstehender springt in die Bresche und macht viel möglich. Der Intendant greift zum Hammer. Sein Büro wird die Herrengarderobe. Die Schauspielschüler kochen die köstlichsten Imbisse und Zwischenmahlzeiten. Die kleinen Kohlrouladen mit Reis und Lammfleisch! Einfach köstlich! Wer fahren kann, fährt wen auch oder was auch immer wohin auch immer. Meistens tut das Necirvan Etrushi, ein feiner junger Mann, stets comme il faut in Anzug und Krawatte, der uns in den folgenden Tagen noch sehr ans Herz gewachsen ist. Und als sich herausstellt das nur eine Hälfe des Kaspar-Würfels angekommen ist – statt der anderen Würfelhälfte wird ein funktionstüchtiger neuer Rollstuhl ausgeladen, den wer wo auf der Welt nun schmerzlichst vermissen mag, vielleicht angesichts einer vollkommen nutzlosen bunten Würfelhälfte von etwa einem Meter Höhe, die nicht einmal kleine Räder hat! – wird blitzartig ein vollkommen neuer Würfel gebaut.
Man darf in Kurdistan umsonst ins Theater gehen. Man kommt auch hin, oft in hellen Scharen. Rechtzeitig, später, man geht auch oft früher. Man sieht die Vorstellung, ganz, zur Hälfte, für ein Stündchen. Das Publikum umfasst alle Altersklassen, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen – vor allem aber Männer. In einem Publikum von mehreren hundert Menschen sind kaum zehn Frauen zu finden. Auch das Straßenbild der kurdischen Städte wird von Männern dominiert.
Zu Seminar und Diskussion mit Roberto Ciulli in der Universität für Human- und Geisteswissenschaften erscheinen Studenten beiderlei Geschlechtes in großer Zahl. Nach einer geplanten Stunde im Vortragssaal wird auf eine weitere Stunde im Garten verlängert. Das intensive Gespräch ist auch dann nicht mehr als gerade begonnen.
Wie unsere Vorstellungen aufgenommen werden! In Deutschland gelten sie als schwierige Aufführungen. Zudem ist die Dekoration nur improvisiert, die Sprache nur aus der Powerpoint Übertitelung verständlich – aber hier sind sogar die Jugendlichen von dem Pirandello-Abend KAOS begeistert, ganz zu schweigen von Peter Handkes „Kaspar“ oder „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Und dann gibt es eine ganz besondere Sitte: Diejenigen, denen es gefallen hat, bleiben nach dem kurzen Applaus im Raum und bilden eine lange Reihe, die Schauspieler nehmen an der Rampe Aufstellung, die Zuschauer kommen nun auf die Bühne und jeder gibt jedem Schauspieler persönlich die Hand, um sich zu bedanken. Wir haben jeden Abend jeder über hundert Hände geschüttelt. Wer als Schauspieler seine Verantwortung nicht zu spüren vermeint – hier kann er’s lernen, Gesicht für Gesicht, Hand für Hand, Leben für Leben.
Erbil.
Erbil ist ein besonderer Ort. Die Zitadelle über der Stadt ist auf einem Felsplateau gelegen, sie ist der wohl am längsten durchgehend besiedelte Ort der Welt. Seit siebentausend Jahren leben Menschen auf der Zitadelle von Erbil. Wir spazieren immer wieder durch die Mauerlandschaften auf dem Felsen. Die Lichtstimmungen auf Lehmziegeln, in den Höfen der renovierten mittelalterlichen Häuser prägen sich tief ein. Der Ort ist von großer Magie.Seine archäologische Sicherung und Erschließung ist ein Weltprojekt. Viele Europäische Staaten und die UNESCO sind vor Ort. Am Fuß des Berges ein ist ein wunderschöner kleiner, aber urbaner Platz mit einer Brunnenlandschaft und nachts erleuchteten Fontänen. Unvergesslich sind die Wasserpfeife zum Tee, das Farbenspiel der Fontänen und die nächtlichen Flaneure an manchem schönen Abend. Besonders der Tabak mit Orangenaroma hat es mir angetan, der kleine Uhrturm und der Blick auf die erleuchtete Zitadelle und das Denkmal des Weisen aus Erbil, der im Mittelalter die erste Geschichte von Erbil schrieb – in mehreren Bänden.
Direkt hinter dem Platz beginnen die Shopping Malls. Dann folgen die Ausfallstraßen, die neuen Hochhäuser und Hotels. Palmen wurden auf den Mittelstreifen gepflanzt, ein teurer Import aus dem Süden des Irak. Prachtvoll, man muss nicht aufs Geld sehen. Es boomt an allen Ecken und Kanten, oft boomt es auch nicht fertig und bleibt als Betonkulisse stehen, als ein verjährendes Zukunftsversprechen. Eine Art Potemkinscher Aufschwung scheint es, der da um sich greift, man spürt es mit Unbehagen. Das kleine Teehaus der Literaten und Künstler am Fuß der Zitadelle – ein Platz von Kultur, ein Platz mit Geschichte, kleinen und großen Bildern, Fotos von Helden, Dichtern und Sängerinnen,Veranstaltungshinweisen und sogar einer Leihbücherei für das Publikum – wirkt angesichts des sonst grassierenden neuen Prosperität bereits merkwürdig museal, wie aus einer anderen Zeit übriggeblieben, obwohl es unstreitig lebendiger ist als die gegenüberliegende Fassaden-Mall, in deren Torbögen die Kleinhändler mit Fussballtrikots und allerlei Elektronik nisten wie die Schwalben in einer Ruine.
Hier scheint das schöne Klima von Dohuk zunächst teilweise in sein Gegenteil um. Unsere Helfer vor Ort retten mit bravoureusem Einsatz immer wieder die Lage. Sehr zu danken ist hier Kirmanc Bedel, der verhandelte, übersetzte, telefonierte, Fragen beantwortete, um Details kämpfte, uns einzeln oder in kleinen Gruppen durch die Stadt führte – und meistens mehrere Dinge dieser Art gleichzeitig tun konnte, ohne ein einziges mal auch nur unruhig zu wirken. So gelingt auf den zweiten Blick doch noch alles, wie zum Beispiel die Unterbringung in dem phantasievoll ausgestatteten Hotel Tchartchira. Seine Empfangshalle ist eine Symphonie in Glas, Kristall und Farben. Und wie gut seine Küche war! Wie übrigens fast überall in Kurdistan.
Nicht nur unsere Gastspiel, das Stattfinden von Theateraufführungen überhaupt scheint ein umstrittenes Politikum zu sein. Die Lage des Theaters, dieses speziellen Baues, ist ähnlich wie in Dohuk. Hier ist nichts und funktioniert nichts. Leiharbeiter sind einbestellt, die nichts über Theater wissen und teilweise zunächst auch weiter nichts von Theater wissen wollen. Das hatte sich dann übrigens schnell geändert, Begeisterung greift um sich und jeder will jedem helfen. Die Vorstellungen gelingen, das Publikum erscheint trotz spärlicher Werbung zahlreich und die Schlangen der Hände schüttelnden Zuschauer sind lang. Ein angeregtes Gespräch mit dem Leiter des Goethe Institutes, Herrn Heinrich Sobotka, entsteht. An dieser Stelle sei auch ihm herzlich gedankt.
Die Wachsamkeit ist hier bedeutend größer als in Dohuk, man ist dem Konflikt näher gerückt. Eine bewaffnete Patrouille kontrolliert jeden Winkel des Hauses vor Vorstellungsbeginn. Auch hier gilt wieder: wir fühlen uns nicht gestört von der Kontrolle, sie gibt uns ein Gefühl der Sicherheit, zu der auch die durchwegs freundliche, oft gar herzliche Offenheit der Soldaten und Polizisten wesentlich beiträgt.
Wieder sind kaum Frauen im Publikum. Als Roberto Ciulli einmal einen zivilen Gesprächspartner danach fragt, warum denn kaum Frauen in die Vorstellungen kämen, erhält er zur Antwort: „Mischen Sie sich nicht in unsere Angelegenheiten.“ Er insistiert und wird endgültig beschieden mit dem Satz: „Stellen Sie diese Frage nicht.“
Unvergesslich bleibt mir ein seitlicher Hinterhof des Theaterbaus. Hier verrotten brauchbare und unbrauchbare Teile früherer Dekorationen wohl schon mehrere Jahre lang. Dieses Theater kann sich keinen Fundus leisten, nur eine Deponie, eine Deponie direkt neben einer Mall allerdings, die sinnigerweise Rhein-Mall heißt. Ein deutsches Muster? Durchaus denkbar. Arme Kultur. Nicht nur in Kurdistan.
„Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Apfelbäumchen habe ich gesehen in Kurdistan, auch blühende Mandel und Nektarinenbäumchen. Ob den Kurden Ihre Welt nun endlich aufgehen darf? Oder ob sie in Gefahr ist, unterzugehen? Oder gar beides zugleich? Stellen Sie diese Frage nicht, Rupert Seidl. Mischen Sie sich nicht in ihre Angelegenheiten. Danken Sie ihnen und halten sie ihnen alle Daumen. Aber danken Sie zum Abschluss auch den Fahrern der Busse und danken Sie dem kleinen gelben Bus, dem Yellow Bus, der im ersten Gang die Bergtäler abwärts fuhr, um die Bremsen zu schonen, mit dem wir unvergessliche Fahrten, in dem wir unvergessliche Erlebnisse feiern durften. Danke Kurdistan! Danke den Kurden und der Kurdischen Wirklichkeit so viel realer und so weit jenseits von Karl May!