• Gästebuch
  • K.B.B.
  • Reiseerinnerungen
  • ruhrorter straße, probenraum

Warum reisen wir?

das onlinetagebuch des theater an der ruhr

Author: Rupert Seidl

Verleihung des Ruhrpreises für Kunst und Wissenschaft 2011 an Volker Roos

11. Juni 2012 by Rupert Seidl Leave a Comment

Am 11. Dezember 2011 wurde der Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft der Stadt Mülheim zusammen mit Uli Hanisch an den Schauspieler Volker Roos verliehen. Folgende Rede würdigte den Preisträger.

Lieber Volker Roos, sehr geehrte Damen und Herren

Man liebt den Schauspieler. Was liebt der Schauspieler? Er liebt es, zu spielen. Spielen ist die Lust, sich als jemand völlig Anderen zu erproben als der, der man ist. Spielend setzt man das Sicherste auf’s Spiel was man hat. Keine Bange, nicht etwa sich selbst, sondern lediglich die Definition, die man sich von sich selbst gemacht hat. Die Definition, an der der demographisch erfasste Bürger seine ganze Existenz befestigt, ist dem Schauspieler ein Spielzeug. Bei vielen Schauspielern wackelt sie auch schon nach ein paar Jahren wie ein bedrohter Zahn. Vielleicht schreiben Schauspieler deswegen so gerne ihre Memoiren. Vielleicht wollen sie damit herausfinden, ob es sie all die Jahre überhaupt gegeben hat. Nur ein winziger Schritt trennt sie von der Erkenntnis, dass es so etwas wie ein Ich eigentlich gar nicht gibt.

An genau dieser Stelle bedroht uns der Schauspieler. Heiner Müller bringt es kurz und gut auf den Punkt: Es sind Schauspieler, sie sind gefährlich! Sie stehlen uns nicht das Hemd von der Leine, sie stehlen uns die Rollen, in die kostümiert wir uns in die Schaufenster unserer gesellschaftlichen Geltung stellen.

Wie das kleine Mädchen im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern bringt der Schauspieler den ganzen Staatsakt zum Platzen. Nicht, weil der Kaiser etwa nackt sei! Der Krönungsmantel paradiert da ganz richtig und real vor uns. Aber es steckt kein Kaiser darin. Es steckt nichts und niemand darin. Das freche Gesicht des Schauspielers taucht unvermutet im Hermelinkragen auf. Es war nie jemand darin gewesen.

Als kleines Kind sieht Volker Roos in einem Zigarettenbilder–Katalog Kostümbilder aus Barock und Renaissance: Reifrock, Strumpfbein, Pluderhose, Frau und Mann: Was ist das? Das sind Theaterkostüme. So etwas will ich auch anhaben!

Im Frankreich Ludwigs des XIV. nannte man das patriotische und gesellschaftsverbindliche Gefühl der Staatsliebe und Königsvergötterung das edle, das zentrale Gefühl, das Sentiment. Aber der Kaiser hat ja gar nichts an! Niemand steckt im Kaisermantel! Dem kleinen Mädchen, vielleicht gar dem siebenjährigen Lieschen Müller, dem Volker Roos stets vielbeschworene Zeugin, hätte man folgerichtig im Ancien Regime das Gegenteil des Sentiments, ein schlimmes Ressentiment vorgeworfen. Positiv aufgefasst ist ein Ressentiment also vielleicht nichts anderes als der mutige Akt einer öffentlichen Entlarvung.

Der Schauspieler verbraucht in seinem Memoirenleben einen ganzen Haufen derartiger Kaiser- und Bürgermäntel. Er macht uns klar, dass unsere Identitäten nicht wir sind, ja, nicht einmal Kleider, es sind nur Rollen, oft nicht einmal niedergeschriebene, nur angewöhnte, aus zahl- und gedankenlosen Wiederholungen des einmal gemachten Fehlers gewoben. Der gute Schauspieler aber gewöhnt sich keine Rolle an. Er löst sie im Moment des Spielens bereits auf. Er zieht die Rolle ganz an sich, ja, in sich hinein. Er verstellt sich nicht. Er verbiegt sich weder in Habitus noch Manier. Nicht An-Gewohnheit ist Spielen, noch weniger kunstfertig illustrierende Maskierung. Sie ist Demaskierung, An-Verwandlung, Auflösung des Fremden in der eigenen Art.

Sprechen wir heute von den entlarvenden Ressentiments des Schauspielers Volker Roos. Der Schauspieler fragt sich auf der Bühne: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Die erste Frage begleitet Volkers Jugend. Schon als Kind fragt er den Vater immer wieder nach dem erst kürzlich verlorenen Krieg. Und der spricht offen zu seinem Sohn. Die Musik vorneweg, hatte er als Militärkapellmeister zugleich mit dem Krieg ganz Europa bereist. Er verbirgt dem Kind nichts. Die Kluft zwischen Befehl und Entscheidung wird zum zentralen Thema ihrer Gespräche. Wäre er, früher geboren, selbst zum Nationalsozialisten geworden? Der junge Volker hält es das zunächst für unmöglich. Aber schon mit achtzehn Jahren ist er sich da nicht mehr so sicher. Was ist das Böse? Wo ist es in ihm selber zu finden? Diese Frage wird ihm zentral. In sich selbst spürt er der historischen Katastrophe nach. Immer wieder spielt er faschistische, bösartige, kalte Figuren. Den Zanko im Kroatischen Faust von Slobodan Snajder zum Beispiel. Er spielt Mitmacher, Mitläufer und Antisemiten. Eine zentrale Arbeit in seinem Schauspielerleben ist der judenhassende Kaufmann Antonio in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig. Die Kälte der Mörder interessiert ihn, das Fehlen menschlicher Eigenschaften, die Leerstellen in den Gefühlen der Täter, die negativen Vexierbilder des faschistischen Charakters. Um dem Grauen zu entkommen, muss Du Dich darin begraben sagt Jean Genet. Der Schauspieler Volker Roos emanzipiert sich von den Schrecken der Vergangenheit, in dem er ihre menschlichen Wurzeln in sich entlarvt und schließlich öffentlich manifestieren kann. Hat er da eine Art Rollenfach gefunden? Der siebenjährige Rubin, Kind seiner Kollegin Christine Sohn, fragt ihn, als er einmal in Uniform und Reiterstiefeln durch das Foyer geht: Volker, spielst Du schon wieder einen Bösewicht?

Gesellschaftlich tradierte Männerrollen zu entlarven wird sein zweites zentrales Interesse. Am Theater an der Ruhr entdeckt er die Frauenrollen für sich. Die Betia in La Mosceta, die Frau aus der U Bahn in Gott. Als Spelunkenjenny wird er eine Ikone des Theaters an der Ruhr. Er befreit er sich ein zweites mal in seine Frauenrollen. Mit dem Geschlechterwechsel entlarvt er das Klischee des Männlichen. In der zweiten Version von la Mosceta spielte Volker Roos einen Mann, der ein Frau spielt. Er ist nur oberflächlich kostümiert, ein Fähnchen und eine Perücke müssen ausreichen. Barfuß geht es Leitern hoch und hinunter. Er erzählt, das sein eigener Vater in der Vorstellung erst nach zehn Minuten bemerkt hatte, dass die Frau dort ja in Wirklichkeit ein Mann und gar sein eigener Sohn sei. In der Rolle der Tamora in Titus Andronicus mündet er in sein frühestes Thema und tut er einen Blick auf die abgewandte Seite des Mondes. Er erforscht den Typus der Winifred Wagner, der Magda Göbbels, der hohen Frau der Nationalsozialisten.

Seinen Text höchst misstrauisch, ja, ressentimental zu befragen, ist ihm ein zentrales kreatives Mittel. Die Sprache der Übersetzung von König Lear, in der er den König spielte, hasste er anfangs. Die Grandiosität, die er leztlich an ihr erlebt hatte, erschloss er sich mit der hohen Energie gleichsam begeisterter Abneigung. So entstand die Figur seines Lear, die, mit sparsamsten schauspielerischen Mitteln gestaltet, fast allein auf der feinsten Durchlichtung eben dieser Sprache basierte.

Dem Schauspieler ist alles Material, was er aktuell in den Tag hinein erlebt. Er zensiert kein noch so unbedeutendes Erlebnis, keinen noch so niedrigen Affekt. Aus der kleinlichsten Aversion kann eine Charakterstudie von tiefer Bösartigkeit erwachsen. Das fast quälende Ressentiment gegen die Spielweise eines inkompatiblen Bühnenpartners wurde zum grundlegenden Gestus des Wagner in Pinocchio / Faust. Das Ressentiment gegen eine ganze Rolle in Woody Allens Stück Gott, die des Sklavenbesitzers, in der er einen schlechten Schauspieler zu spielen hatte, der in einem schlimmeren Stück eine fürchterliche Rolle einfach entsetzlich spielt, geriet ihm zu einem seiner heitersten und spielerischen Erfolge. Ernsthaft erlebte er schöpferischen Schmerz an der Rolle des Danton, von der er mit innerster Sicherheit wußte, dass er einfach nicht Danton und der Danton einfach nicht seine Rolle sei. Alles an der Figur war ihm fremd. Als das Resultat unnachgiebigen Ringens mit einer völlig fremd empfundenen Vorlage geriet ihm eine der zentralen Leistungen seines Schauspielerlebens.

Bei allem Ressentiment und allen seinen vielfältigen Segnungen – ein großes Sentiment hat er doch noch, der Volker Roos. Es ist das große, liebende und auch immer wieder glückliche Gefühl der Gemeinsamkeit mit allen und allem am Theater an der Ruhr Roberto Ciullis, der Gemeinsamkeit mit ihm und mit seiner Lebensbühne ein ganzes Bühnenleben lang. Er findet nicht, dass er einen Preis verdient habe, den nicht jeder seiner Partner auch erhalten sollte. Bestürzt fragte er eine Freundin, warum denn ausgerechnet ihm dies wiederführe. Ach Volker, war da die Antwort, vielleicht sind das nach dreißig Jahren einfach Deine Treuepunkte.

Die Punkte für Treue, gut, die lässt er sich gerne gefallen. Der Vater, in Alzey geboren, benannte seinen Sohn nach dem fidelspielenden Recken Volker von Alzey aus dem Nibelungenlied, der ob seiner Musik, mehr aber noch ob seiner Freundestreue gelobt wird. Volker Roos wollte und will nichts anderes sein, als eben ein Volker von Alzey seines Lebenstheaters, beim Fest und in der Schlacht gleichermaßen, Freund, Spielmann und getreuer Paladin seiner Nibelungen. Sich und anderen den ein oder anderen Hieb, die ein oder andere Blessur nicht ersparen, wenn es unumgänglich ist, versteht er mit Ingeborg Bachmann als ritterliche Tapferkeit vor dem Freund. Das ist die schöne, die große Sentimentalität des ressentimentalen Volker Roos, der er anhängt wie nur die kleinen Mädchen es können, die Lieschen Müller heißen und genau wissen dass der Kaiser keine Kleider anhat und im Kaisermantel nicht die Spur von einem Kaiser zu finden ist.

Herzlichen Glückwunsch, Volker!

 

Posted in: Allgemein Tagged: Auszeichnung, Preis, Roos, Volker

Das manchmal stärkere Leben

11. Juni 2012 by Rupert Seidl Leave a Comment

Der Autor des Blogs bittet um Verständnis für das fast einjährige Schweigen und meldet sich mit drei neuen Veröffentlichungen zurück. Es war ihm nicht anders möglich. Das Leben ist manchmal stärker als die beste Absicht, seinem Gebot sich zu beugen oft die einzige Möglichkeit. Ich hoffe, dass uns unsere Leser, wo sie uns nicht treu blieben, doch wieder gerne zu unseren Lesern werden! Lesen Sie über die Verleihung des Ruhrpreises für Kunst und Wissenschaft an Volker Roos zusammen mit Uli Hanisch am 11. Dezember 2011, über unsere Reise nach Kurdistan im April 2012 und sehen Sie die Bilder Peter Kapustas zum Probenbeginn am Büchners Woyzeck im Mai und Juni 2012. Viel Vergnügen!

Rupert Seidl, am 12. Juni 2012

Posted in: Allgemein, in der Diskussion Tagged: Rupert, Seidl

Kaspar in Madrid, vom 30. 5. bis zum 5. 6. 2011

19. Juni 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Madrid

Um es sofort zu bekennen – ein Besuch in Madrid ist für mich immer eine der besondersten Reisen gewesen die man nur unternehmen kann. Bei weitem nicht nur innerhalb oder außerhalb Europas übrigens – diese Stadt zu betreten, ist für mich immer wieder wie die Landung auf einem anderen Planeten mit seiner eigenen Atmosphäre; auf einem Himmelskörper allerdings, der nicht mehr als höchstens eine Handbreit über dem Boden der Meseta und dem Zentrum Spaniens zu schweben scheint. Hier gehen alle Uhren etwas anders. Kontakte, Kommunikationen und Gespräche, Küche und Restaurants, jede Straßenecke, jeder Fußgängerübergang und jeder Einblick in Gassen und Straßenfluchten bieten neue ungewohnte Perspektiven und Überraschungen. Der Reisende erfährt mit allen Sinnen, wie wenig Europa durch seine mittleren und nördlicheren Gefilde allein repräsentiert werden kann. Wir Mitteleuropäer vergessen das gerne. Nein, Europa, das ist nicht nur so wie bei uns. Es bietet uns vollkommen unbekannte Welten, aufregende Alltagskulturen und jede Menge Lernstoff, weit mehr als es die vor allem bürokratischen Neuigkeiten aus Brüssel uns glauben machen.

Ein Planet schwebt eine Handbreit über dem Boden.

Schwärmerei beiseite – aber auch so bietet Madrid eine der am wenigsten amerikanisierten, globalisierten oder nivellierten, eine der authentischten und vitalsten Stadtkulturen Europas. Madrid ist keine sehr alte Stadt, aber alle ihre geschichtlichen Zeugnisse präsentieren sich belebt und lebendig, als genutzter und geliebter Teil eines regen und besonderen Stadtlebens. Spätmittelalter und frühe Neuzeit bilden die Atmosphäre auf und um die Plaza Mayor, das neunzehnte Jahrhundert, Jugendstil und Art Deco prägen die nördlichen Stadtviertel. Die gigantische Gran Via entfaltet das Panorama einer Welt zwischen der Ära der ersten Republik und dem Art Deco der dreißiger und vierziger Jahre. Im Schatten der Paseos, um den Prado und selbst im Park von Buen Retiro spürt man die einstige Weltmacht eines Reiches, in dem die Sonne nicht unterging.

Nach dem Ende des Regimes des Caudillo veränderte die Bewegung „la Movida“ der achtziger Jahre Stadt und Land. Ganz Spanien erfand sich selbst neu. Eine veritable Prinzessin, erwachte Madrid aus ihrem von der faschistischen Lähmung erzwungenen Dornröschenschlaf. Der Jugendstilbahnhof Antocha wurde zum Palmengarten. Im Museo Reina Sofia erleben wir die ungeheure Bedeutung, die Spanien in Kunst, Literatur und Politik für die Moderne hatte auf völlig neue Art. Die große Tradition aktualisiert sich, Stadtviertel definierten und definieren sich immer wieder neu. In Huertas, um die Plaza d’Angel und das Spanische Nationaltheater wird die Erinnerung an die Dichter, Erzähler und Essayisten Spaniens besonders wach gehalten: ihre Worte, als metallene Lettern in das Trottoir eingelassen, von den unzähligen Schritten leuchtend poliert, erschließen uns Blick und Ort. Nach jeder Himmelsrichtung ist es mindestens eine Tagesreise bis zum Meer und doch findet man überall die frischesten und köstlichsten Fische.Wir wohnen im Viertel Chamberì, im Hotel HD Argüelles in der Via Valdehermoso. Es ist noch nicht heiß, ein leichter kühler Wind weht. Nur wenige Straßen sind hier nicht baumbeschattet. Straßen und Plätze leuchten im frischen Laub und den sonnengelben Blütenrispen der Jacaranda-Bäume.

Ein Herbst im Frühling.

Eingeladen von dem Festival Otoño en primavera suchen wir Spanien und Madrid in schwierigen Zeiten. Surreale Welten überlagern sich, die nicht aufeinander passen. Wie in versetzten Spiegeln oder eingerissenen Spiegelfolien brechen sich die Bilder. Aus den Fenstern des Cafés „La Mallorquina“ kann man nicht wie gewohnt in die Weite der Puerta del Sol sehen. Man sieht über die blau leuchtenden Foliendächer einer Zeltstadt. Die Demonstranten besetzen die Zentren der spanischen Städte. Die spanische Post verschandelt mit einem zitronengelben Barackenwürfel aus Blech und Glas die Plaza Mayor. Briefmarken mit Militär- und Naturmotiven werden beworben. Indische Wochen mit allen Beispielen der Tandoori Küche werden in kleinen Blechbuden gegenüber dem Teatro Valle-Inclan abgehalten. Das Festival, dessen Gäste wir sind, findet statt, aber findet in der Stadt keinen merklichen Widerhall. Nicht einmal die Plakatierung ist besonders wirkungsvoll. Das Theater, das die Stadt tatsächlich beherrscht, ist das Theater der zahllosen Bettler. Man bettelt mit kleinen Inszenierungen, oftmals in überraschenden und originellen Kostümen, Posen, Gesten und kleinen Szenen. Sehr viele Menschen betteln so.

Das Teatro de la Abadìa.

Wir spielen im Teatro de la Abadìa, ebenfalls im Viertel Chamberì gelegen. Das Haus ist eine säkularisierte Kirche, ursprünglich Teil eines groß angelegten städtischen Kinderheimes, das heute noch betrieben wird. In den schattigen Gärten um das Theater und im Ensemble der Heimbauten stehen lächelnde Märchenfiguren aus Beton zwischen Rosensträuchern und Hecken.
Die Bühne des Theaters ist in die dreifache Apsis gesetzt, eine Besonderheit des Baus ist ein sofort am Eingang in zwei getrennte Hälften gespaltener Zuschauerraum. So spielt man vor zwei verschiedenen Publika. Der Kirchenraum wurde so angelegt, um Kinder und Jugendliche scharf nach Geschlechtern trennen zu können.

José Luis Gomez, Schauspieler, Pantomime und ehemaliger Direktor des Spanischen Nationaltheaters, hat das Teatro de la Abadìa gegründet und leitet es seitdem. Dem Autor dieser Zeilen bleibt er in der Rolle des Unternehmers Ernesto Martel in Almadovars Film Zerrissene Umarmungen von 2009 unvergesslich. Dem mächtigen Mann werden Filmbeweise für die Untreue seiner Frau vorgelegt – ohne Ton. Eine weibliche Fachkraft für Lippenablesen trägt dem Tycoon mit leidenschaftsloser Stimme eine lange Reihe entsetzlicher Sätze vor, die seine Frau ihrem Liebhaber sagt – über ihn. José Luis Gomez spielt über einige lange Einstellungen den vollkommenen Zusammenbruch seiner Figur hinter der Fassade eines einzigen Blickes, einer einzigen Miene, einer einzigen Haltung in einem eingefrorenen Stupor, so, als habe dieser Mensch einen zeitfreien Raum betreten in dem er nunmehr endlos verharren wird. Der Ausdruck, den er dabei findet, ist nicht etwa der des höchsten Entsetzens, sondern ein Ausdruck höchsten Interesses an der unvermutet eingetretenen tödlichen Verletzung.

Unvermutete Gemeinsamkeiten.

José Luis Gomez sprich fließend Deutsch, er hat 1965 Schauspiel an der Schauspielschule Bochum studiert. Mit Volker Roos duzt er sich, 1969 haben beide bereits in Handkes Kaspar in Nürnberg auf der Bühne gestanden.
Das Teatro de la Abadìa ist ein Labor zur Umsetzung seiner künstlerischen Ideale. Es ist eine Theaterschule, ein Institut der Forschung und der Ausbildung von Künstlern ebenso wie ein Theaterbetrieb mit Hausproduktionen und Gastspielen. Über die Schüler der Institution hinaus gibt es kein weiteres festes Schauspielensemble, für die einzelnen Produktionen werden zusätzliche Gäste engagiert. Die fest engagierte technische Mannschaft des Hauses ist jung, begeistert und hoch qualifiziert. Wir werden ihre wie auch die Gastfreundschaft José Luis Gomez und des gesamten Hauses nicht vergessen. Ihnen allen sei hier an dieser Stelle herzlich dafür gedankt! Die desolate Lage der spanischen Haushalte wirkt sich existentiell auch auf die Arbeit des Teatro de la Abadìa aus. Die Zukunft ist ungewiss.

Das Modell Kaspar.

In Peter Handkes Stück „Kaspar“ wird das Schicksal des Findlings Kaspar Hauser, der 1812 sprachunfähig aufgefunden wurde und 1833 einem Attentat zum Opfer fiel, zum Anlass einer sprachanalytischen Meditation über die Deformation und Versklavung des Menschen allein durch das Erlernen einer Sprache.
Die Inszenierung des Theaters an der Ruhr hat Modellcharakter für die Arbeit Roberto Ciullis und unseres Ensembles. Zu ihrer Entstehungszeit in den achtziger Jahren oftmals heftig vom Publikum angefeindet, wurde sie im Lauf der Jahre zu einem der größten Erfolge des Theaters an der Ruhr. Heute genießt sie Kultstatus. Sie hat in vierundzwanzig Jahren fast die ganze Welt bereist. Die Aufführung wurde in Polen, Bosnien und Serbien, in Kasachstan, Kirgistan und Uzbekistan, im Iran und ein Jahr vor Ausbruch des zweiten Golfkrieges auch im Irak gezeigt, ebenso in Südamerika und in Schweden. Zuletzt war es im November 2009 kurz vor Ausbruch der Tunesischen Revolution in Tunis zu sehen.
„Kaspar steht“ so Roberto Ciulli, „ für die universelle Kraft der Theatersprache, die nicht nur einen Dialog mit anderen Kulturen ermöglicht, sondern diesen einzigartig macht“. Diese Aufführung gesellt der abstrakten Dichtung Handkes eine textunabhängige surreale Dichtung in der universellen Sprache des Theaters bei. Beide Dichtungen schaffen emanzipiert von einander und doch gemeinsam ein unvergleichliche Bühnenwelt.

Schwarze Erziehung, Sprache und Sprachlosigkeit der Unterdrückung.

In Roberto Ciullis findet das Stück in einem Raum außerhalb der realen Zeit statt. Kaspar, das wilde Kind, ursprünglicher Mensch in Muße, wird von der schwarzen Herren der Zivilisation entdeckt wie ein archäologisches Artefakt. Photographiert, dokumentiert wird er schließlich seiner Welt entrissen. Nun tritt er eine Reise durch eine Kindheit als Labor an. In einem Wohnzimmer, dass irgendein Wohnzimmer ist, ist das einzig bunte Möbel eine Art Laufstall – ein Würfel, der jede freie Bewegung des Kindes unmöglich macht. Nur sein vom Körper getrennter Kopf sieht daraus hervor. Und mit dem kann er nur eines: Schreien – oder eben sprechen.

Die drei schwarzen Herren beginnen ihr Erziehungswerk. Bilderbuchfiguren von Esel, Wolf und Lamm exerzieren das Urbild der schwarzen Erziehung aus den Kirchenschulen des Mittelalters. Die Struwwelpeter-Grammatik hinterlässt ihre Risse und Brüche in der Seele des Kindes. Die schwarzen Herren führen ihre Laborarbeit fort. Selbst die endgültige Entscheidung für ein Geschlecht ist Zwang. Aus dem betäubten Menschen wird eine Frau mit dem Skalpell herausoperiert. Nun werden die Erzieher scheinbar zu Freunden oder gar Partnern. In Feier, Gesellschaftsspiel, Party, in trauter Runde oder in der dröhnenden Diskothek schaffen sie den durch Sprache vollkommen determinierten Menschen, den perfekten Baustein für unsere zivilisierte Gesellschaft. Der weibliche Kaspar besteht die Prüfung. Sie ist fertig. Sie ist angepasst. Sie hat keine Möglichkeiten mehr und nur noch einen Weg vor sich: den des Systems, dem sie durch die Sprache versklavt ist.

Zivilisation der Bestien.

Der zweite Teil der Aufführung ist eine reine Erfindung des Theaters. Im Text ist sie in keiner Weise veranlagt.

Eine Zivilisation, die derartig die Sprache missbraucht, wird eines Tages die Sprache verlieren. In dieser Zukunft wird Kaspar das einzige Wesen sein, das noch über eine Sprache verfügt. Die Menschen dieser Zukunft haben sie längst verloren. Von ihrer einstigen Zivilisation ist nur Form und Reflex geblieben. Sie selbst sind schlimmer als Tiere geworden: Lemuren, Wiedergänger und Bestien. Der verrückte Kaspar und die letzten Worte seiner entrückten Sprache sind der Gegenstand einer Art Anbetung geworden. Sie sind die Heiligtümer bestialischer Wesen.

Wie eine geschmückte Mumie ist der gefesselte Kaspar als Heiligenbild ausgestellt. Eine Familie macht ihren Sonntagsausflug zum Gnadenbild – in der Hoffnung das Wunder zu erleben und einige Worte der einstmaligen Sprache zu hören. Die Form zeigt noch bürgerliche Formen, aber der Umgang miteinander ist zutiefst grausam geworden. Selbst einen Instinkt des Mitfühlens oder Rituale der Solidarität und der Schonung wie sie die Tiere kennen, gibt es nicht mehr. Die geschlechtsreife Tochter ist bloßer Besitz. Die Söhne sind die gefürchteten Konkurrenten eines Vaters, der, seinerseits ein unterdrückendes Monster, den Bewerber um die Gunst der älteren Tochter kurzerhand mit dem Knüppel erschlägt. Die Mutter ist ein in gutbürgerliche Pose erstarrtes traumatisiertes Tier. Kaspar wird nicht zu ihnen sprechen, der Ausflug mit Totschlag bleibt vom Wunder ungekrönt. Auch zum jüngsten verkrüppelten Mädchen der Familie, das ihm seine Puppe schenken wird, wird Kaspar nicht sprechen.
Allein spricht er schließlich. Aber außer einem Toten ist niemand da, ihn zu hören oder gar zu verstehen, wenn er den Bogen von Alpha nach Omega – Aale und Ölkrapfen – oder auch von Z bis A schlägt. Ziegen und Affen schlägt; sich immer wieder im Kreis drehend und keinen Ausweg mehr findend.

Gesprächsfetzen.

Nach der Premiere gibt es anlässlich eines kurzen Empfangs ebenso kurze Gespräche mit spanischen Kollegen. Das Theater an der Ruhr trifft auf seinen Reisen immer wieder auf aufkochende politische Situationen und kommt mit Dissidenten und Aktivisten schnell in Diskussion und Austausch. In Tunis kam es zu leidenschaftlichen Gesprächen mit zahllosen Menschen, die bald darauf die Revolution verwirklichen sollten. Hier und heute in Madrid kommt es nicht zum Kontakt mit der Bewegung.

Die Kollegen erzählen wenig. Wie alle fortschrittlichen Spanier stehen auch sie hinter der Volksbewegung, die die Plätze der Städte besetzt hält. Nein, sie sehen auch bei der kommenden Wahl keine echten Alternativen zu der jetzigen Misere und keinen Ausweg aus der Misere, den eine andere Regierung im Gegensatz zur der Jetzigen verwirklichen könnte. Ihre Bewegung sehen sie als eine Revolution, aber eine friedliche Revolution, die die verschiedensten Interessen und Engagements im Geist des voreinander und des für einander geforderten Respekts vereinigt. Anarchosyndikalistische Prinzipien werden diskutiert. Man erwartet die wichtigsten Veränderungen vom Engagement der Bürger selbst; nicht im Land, nicht einmal in der ganzen Stadt übrigens, sondern in den Stadtteilen. Ein Graswurzelrevolution hat ihr friedliches Wachstum begonnen. Toma la plaza! Wir haben die Zeltstadt auf der Puerta del Sol gesehen, mehrmals durchquert und die meisten Schilder der verschiedensten Richtungen und Gruppen verstanden. Es fehlt dieser Revolution beileibe nicht an nicht an Engagement oder Elan. Es fehlt ihr, so sieht es aus, an wirklicher Utopie. Was uns aus den wenigen englischsprachigen Flugblättern verständlich wird, sieht mehr nach dem hart erarbeiteten Konsens verschiedenster Kleingruppen als nach einer zukunftsträchtigen Vision aus. Vielleicht ist das wirklich effizienter? Der Bewegung sei es von Herzen gewünscht!

Stadtdörfer der Zukunft?

Die Zeltstadt auf der Puerta del Sol lebt ihr friedliches, fast dörfliches Leben, das Polizeiaufgebot ist moderat, souverän und unangestrengt. Selbst an Christi Himmelfahrt unterbleibt die befürchtete Räumung.
Es ist hier ein wenig so, als würden postkatastrophale Siedlungskonzepte erprobt. Gemüsebeete zwischen aufgebrochenen Pflastersteinen hätten nicht überrascht. Es gibt sogar eine Bibliothek mit Lesesaal unter den blauen Planen. Für das Festival oder für momentane Kulturereignisse interessiert man sich scheinbar nicht. Es gibt nur ein englischsprachiges Flugblatt, etwas kleiner als DIN A 5. Alles andere steht nur auf Spanisch zur Verfügung. Große Runden sitzen, hören, reden und diskutieren Stunde um Stunde. Kontakt zu ihnen entsteht nicht.
Jean Genet verließ die Demonstrationen der Achtundsechziger, als er bemerkte, dass nur die Theater gestürmt wurden, nicht etwa der Flugplatz oder das Polizeipräsidium. Die in Madrid haben nicht einmal die Theater gestürmt. Oder besucht. Und letzteres zumindest ist doch eigentlich schade! Vermutlich wussten sie nicht einmal von unserem Besuch.

Das eigentliche Stadttheater.

Wie gesagt, das einzige Ereignis von Subkultur waren die zahllosen Kleintheater und Mikroinszenierungen der Bettler. Immer wieder und überall. Und, wie gesagt, einfallsreich. Gar nicht schlecht. Manche großartig. Die hätten Aphorismen von Valle-Inclan sein können…

Kontakt entsteht auch nicht zum Festival selbst. Wäre nicht die wunderbare und hilfreiche Vertreterin des Festivals, Anna, gewesen, wir hätten kaum gemerkt, dass überhaupt eines stattgefunden hatte. Ihr sei herzlich gedankt, nicht nur in unserem Namen, auch in dem des Festivals! Für mich hat es ihr Gesicht, kein anderes.
Schließlich werden wir doch noch auf einen Empfang in einer Kneipe unweit des Zentrums geladen. Es gibt Musik und Cocktails, einen Stempel auf die Hand und die entsprechenden Ermäßigungen auf die Getränke. Vom Festival treffen wir niemanden, geraten mit niemanden ins Gespräch. Der einzige Unbekannte, mit dem ich an diesem Abend kommuniziere, ist der Rausschmeißer. Er erklärt mir und auch anderen Gästen mit einem sanften Griff am Ellenbogen, dass man sich mit seinem Getränk besser nicht auf das Geländer des gegenüberliegenden Spielplatz setzt, dann führte er uns sanft dem Kneipeneingang wieder zu, einen nach dem anderen. Aber ein schöner Abend war es auch so.

Das Erlebnis ist Kunst.

Wir gehen viel ins Museum. Die Welten des Prado zu beschreiben würde den Rahmen weit ausführlicherer Berichte sprengen. Die Welten des Hieronymus Bosch, die Wunder des El Greco, das Wissen vom Menschen in den Bildern von Velasquez und Rubens, vor allem aber die Reise durch Werk und Leben Francisco Goyas, die dieses Museum ermöglicht; sein aufgeklärter Blick, der das Herz bricht – all das bleibe hier weiter unbesprochen. Wer will, fahre hin. Aus dem Leben des Autors ist dieser Eindruck nicht mehr wegzudenken. Es wäre nicht dasselbe gewesen ohne diesen Eindruck.

Besonders erwähnt sei hier ein zweites Museum Madrids, das Museo Reina Sofia. In Themenkreisen gehängte Werke, ergänzt um Filme und historische Materialien zu den Hintergründen des besonderen intellektuellen Leben Spaniens und Madrids, führen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis fast in unsere Tage – und auf eines der größten Werke Picassos zu. Das Bild Guernica ist hier nicht nur zu sehen, sondern auch zu begreifen, mit zu empfinden und zu verstehen. Das liegt nicht nur an den beigesellten Vorstudien und Filmen. Man hat es sich erwandert, durch die berühmten wie die vergessenen Räume des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Dem Autor wurde Erlebnis, was Peter Weiss in seinem Roman „Ästhetik und Widerstand“ so nachdrücklich beschrieb: das Zusammenwirken von Kunst, Utopie, Revolte und dem Ringen um ein menschenwürdiges Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die lichte Seite des dunklen zwanzigsten Jahrhunderts. Alarmiert bemerkt er, dass ihm selbst diese großen spanischen Traditionen in keiner Weise mit der auf den Plätzen erlebten Revolte in Verbindung zu bringen waren. Er hofft in diesem speziellen Punkt, in diesen wenigen Tagen nichts oder auf jeden Fall viel zu wenig verstanden zu haben.

Apropos Bettlertheater: Ramon del Valle-Inclan

Der große spanische Dramatiker und Romancier Ramon del Valle Inclan entwickelte in den zwanziger und dreißiger Jahren seine eigene, hier zu Lande weitgehend unbekannte Theatertheorie, die des „Esperpento“, der Schauerposse. Der Mensch der Antike, so begründete er seine Dramen, habe sich den Figuren seiner Werke auf den Knien genähert, er sah sie als Götter und Heroen. Der Autor des bürgerlichen Zeitalters habe sich in Augenhöhe zu seinen Figuren empfunden. Er habe sie als enge Freunde, als Verwandte oder auch als Feinde, vor allem aber als Menschen gesehen, zu denen er in echter persönlicher Beziehung stand. Der Autor der Zukunft aber, so schrieb er, stünde wie ein fliegender Raubvogel weit über der Menge der Menschen, überblicke den Irrsinn ihrer Bewegungen, Richtungswechsel und Affekte – und empfände dabei Schauder der Angst, gepaart mit großem Gelächter über all die Absurdität dieses menschlichen Alltags, seiner Absichten und seiner Utopien.

Zum Abschied Dank!


Ich ende mit Dank für wunderbare Tage an Roberto Ciulli, an José Luis Goméz und seine Mitarbeiter, an das Teatro de Abadìa und das unsichtbare Festival Otoño en primavera!

Dem Madridreisenden unter unseren Lesern sei zum Abschluss ein besonderes Restaurant empfohlen. Auf einem der stillsten und schönsten Plätze Madrids, der Plaza de la Paja, liegt das kleine Restaurant NAÏA, das mit einem Periodensystem der köstlichsten Zutaten der spanischen Küche wirbt.

Das Menu del Dia ist preiswert und vorzüglich, besonders die Fischküche ist köstlich einfallsreich. Die Terrasse auf dem wunderschönen Platz bietet unvergessliche Stunden! Albert Bork und ich waren jeden Tag da…Vielleicht lernen auch Sie eines Tages Madrid zu lieben, so wie ich und vielleicht wir alle es wieder, manche neu und manche von neuem, gelernt haben.

 

Posted in: Allgemein, Wenn einer eine Reise tut Tagged: Kaspar, madrid, reise, unterwegs

Wirklich?! :-(

19. Juni 2011 by Rupert Seidl 4 Comments

 

Mit diesem Foto von Fabio Menendez ist die bange Frage ja schon gestellt…

Wirklich nicht?

Hinterlassen Sie doch einem einen Kommentar, eine kleine Beschimpfung oder ein großes Kompliment hinter einem Artikel oder auf unserer Seite Gästebuch! Wir freuen uns!

Posted in: Allgemein, in der Diskussion Tagged: blog, lesen

Mehr aus Madrid

19. Juni 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment













Posted in: Allgemein, Wenn einer eine Reise tut Tagged: Kaspar, madrid, reise

„Was ihr nicht begreift, ist die Mechanik.“

17. Mai 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Bertolt Brechts Dreigroschenoper am 11. und 12. März 2011 in Rüsselsheim

Das Theater Rüsselsheim steht am Treff, ein Rund von Neubauten um einen Platz, der mitgestalteter Teil der geschlossen konzipierten Anlage ist. Die Städtebauer haben urbanes Lebens vorgesehen. Aber dazu liegt der gesamte Treff wohl etwas zu sehr seit ab, obwohl sich auch Volkshochschule und Bücherei im selben Ensemble befinden. An diesem Wochenendabend geht nur manchmal jemand über diesen Platz.

Der Empfang des Hauses ist herzlich und großzügig. Bühne und Zuschauerraum sind riesig. Im lichtdurchfluteten Foyer steht neben den Arbeiten eines Kunstwettbewerbs hier und da große Kunst, besondere Stücke, gar ein kleiner Rodin. Rüsselsheim ist die Stadt der Opelwerke.

Wer finanziert die Theater wirklich? Sieht man den Theatern ihre Finanzierung an? Was entstehen für Theater aus welcher Finanzierung? Was ist das überhaupt, Finanzierung? Ernst Josef Aufricht war Theaterproduzent im Berlin der Weimarer Republik. Wir verdanken ihm eines der schönsten Bücher über das deutsche Theater des zwanzigsten Jahrhunderts, seine Erinnerungen Erzähle, dass Du Dein Recht erweist. Aufricht war ebenfalls der Produzent der Uraufführung der Dreigroschenoper. Bei Probenbeginn hatte er kein Stück. Eigentlich hatte er nur Brechts Idee. Und ein paar Zettel von seiner Hand, Notizen über Stoff und Absicht der Arbeit. Theaterfinanzierung war im Berlin der Weimarer Republik Geldanlage. Theater waren oftmals rentable Unternehmen. Der Geldgeber, mit dem Aufricht zum ersten mal über die Idee der Dreigroschenoper sprach, kam aus dem Bankfach. Sehen sie, sagte er Aufricht, hier habe ich zwanzigtausend Reichsmark. Ich könnte sie Ihnen jetzt geben. Aber ich habe eine wesentlich bessere Idee: wir gehen jetzt gemeinsam auf die Toilette, werfen die Scheine in den Abort und spülen sie einfach herunter. Das hat den selben Effekt. Und Sie haben sich zumindest sehr viel Arbeit erspart.

Der Geldgeber hatte sich gründlich getäuscht. Die Dreigroschenoper wurde der größte wirtschaftliche Erfolg im Theater der Weimarer Republik. Es war nicht nur der Erfolg Bertolt Brechts, es war auch der große Erfolg der Songs von Kurt Weill. Es war ein Erfolg aller Beteiligten, ein Erfolg selbst der Besucher auf den Proben. Karl Kraus sah eine Probe des Eifersuchtsduetts und schenkte dem Autor begeistert weitere Strophen, der Song war ihm viel zu kurz. Es gab kein Stück. Alles entstand auf den Proben. Kräche und Improvisationen lösten einander ab. Bis kurz vor der Premiere war unklar, ob es überhaupt eine Premiere geben könne. Und dann hab sich dennoch der Vorhang zu einem begeisterten, zu einem rauschenden Theaterfest.

Mit dem Ende des ersten Weltkrieges waren alle großen und ewigen Ideale der Deutschen als Schwindel entlarvt. Ehre, Treue, Gott und Vaterland, das Mutterherz und die Heimatliebe, Männerfreundschaft und holde Treue der unschuldigen Mädchen, all das deutsche Wesen an dem die Welt hätte genesen sollen, moderte in den flandrischen Schützengräben.

Brecht stellte sich mit seinem neuen Stoff drei Fragen, die später seine Theatertheorie entscheidend prägen sollten. Ist es möglich, eine Theatergeschichte zu erzählen, in der Handlung und Konflikte ausschließlich von den zwei Motivationen angetrieben werden, die das große Sterben der Ideale überlebt hatten um nun umso machtvoll sichtbarer hervorzutreten; von der Gier nach Geld und der Gier nach Sexualität? Ist es fernerhin möglich, mit einer Geschichte zu interessieren, die nicht spannend sondern vorhersehbar sein will? Eine Geschichte, bei der man es eigentlich gleich gesagt haben kann, eine Geschichte, bei der man sich nunmehr in aller Ruhe auf die näheren Umstände des Eintritts des Vorhergesehenen konzentriere?

Die dritte seiner Fragen war die Frage, die Brecht hatte zum Marxisten werden lassen. An ihrer Aktualität hat sich bis heute nichts geändert. Über Sex wissen wir etwas, wenn wir nur ehrlich genug sind, hin und in uns hinein zu sehen. Aber was wissen wir vom Geld, seinen Wegen, von den Kämpfen, die um das Geld geführt werden und von den Waffen dieser Kriege? Wenig. Nichts. Könnten wir sagen, was Geld wirklich ist? Nein. Können wir andererseits in einer Demokratie verantwortlich handeln, wenn wir der Wirtschaftsteil der Zeitung mit schlechtem Gewissen überschlagen müssen?

Fundamentalismus kann auch als das Resultat ökonomischen Unwissens gesehen werden.

Brecht sah mit dem Marxismus die Möglichkeit, durch Revolution wie auch ökonomische Alphabetisierung eine verantwortlichere und emanzipiertere Gesellschaft zu realisieren. Aber hat das stattgefunden? Gelang der Versuch nach den Revolutionen? Bislang nicht. In Zeiten der Globalisierung wird deutlich, das Demokratie vielleicht nur noch der Handlanger der Macht des Geldes sein kann, dessen Zirkulation sich längst aus den Verantwortlichkeiten Einzelner in einen mechanischen Ablauf verselbständigt hat. Fraglich, ob man in ihn noch eingreifen kann. So vorbereitet wie wir es sind jedoch keinesfalls. Hat immer noch keine ökonomische Alphabetisierung der Gesellschaft stattgefunden? Warum nicht? Oder wird in absehbarer Zeit etwas derartiges stattfinden? Jede Aufführung der Dreigroschenoper stellt diese Frage.

Roberto Ciulli geht mit seinem Konzept für die Inszenierung in die italienischen Kinos seiner Kindheit, dorthin, wo Illusion zur Ware und Utopie zum Kosumgut wurde.

In nicht nur den italienischen Kinos der dreißiger Jahre gab es die Pausen, in denen die Filmrollen gewechselt wurden. Ein halbrunder Steg, die sogenannte Passarella, die vordem das Klavier des Stummfilmpianisten umschlossen hatte, wurde in diesen Minuten Schauplatz eines besonderen Programms. Varietékünstler traten auf, die nicht nur ihre besten, sondern längst auch ihre weniger guten Tage gesehen hatten. Siebzigjährige Soubretten, Tenöre, die ihre Stimme verloren hatten oder Jongleure, die ihre Teller fallen ließen wurden dem johlenden Publikum gleichsam in der Manege zum Fraß vorgeworfen.

In Roberto Ciullis Inszenierung wird solch eine Passarella vor einer leeren Leinwand zum Schauplatz des Brechtschen Weltentwurfes um Sex und Geld. Die Oper, die so prächtig sein sollte, wie nur Bettler sie erträumen und zugleich so billig, das nur Bettler sie bezahlen können, wird von Künstlern gespielt und dargebracht,die unstreitig bald ebenfalls betteln werden. Trübe, aber aktuelle Aussichten für die Schauspieler in den Zeiten der Abwicklung öffentlicher Kultur!

Aber die Dreigroschenoper wird in Rüsselsheim vor allem als Oper gesehen. Es ist nicht genau auszumachen, ob das Publikum für das Theater zu begeistern ist oder ob es um seiner Grimmschen Lieblingsmärchen vom Haifisch oder der sexuellen Hörigkeit wegen das dazugehörige Spiel der Darsteller eher ergeben in Kauf nimmt. Der Autor dieser Zeilen, Tiger Brown der Aufführung, hat in Rüsselsheim einer kurzweiligen und äußerst fundierten Einführung in die musikalische Geschichte und Bedeutung des Werkes beigewohnt, bevor er dann auf der Bühne als Tiger gebrüllt, aber vielleicht nicht einer solchen Einführung entsprechend auch gesungen hatte. Im nächtlichen Hotel räsonniert er nach der Vorstellung für sich über der Frage, ob sich das kulturbeflissene Publikum unserer Demokratie je für die so bitter nötige ökonomische Alphabetisierung wird begeistern können. Die Künstler selbst jedenfalls sind auf diesem Gebiete ihrem Publikum weitgehend ähnlich. Werte hat jeder. Wissen nicht. Und Werte sind in unseren Tagen nach der Abwicklung des Sozialismus und der gesellschaftlichen Abkehr von jeglichem Interesse an Utopien oder gar dem Brechtschen Marxismus gründlich aus der Mode gekommen. Die Stadt Rüsselsheim, Standort der Opelwerke, weist dem Besucher am Wochenende eine dörfliche und fast vollkommen leere Innenstadt. Es wird interessant, am Nachmittag vor der Vorstellung etwas zu essen zu finden. Alles ist geschlossen. Noch ein paar internationale Vielwarenläden verstauen. Heimatlose um ein Wettbüro, das aussieht wie eine Zollbehörde. Nicht mal ein Döner auf die schnelle. Als der Mut bereits sinken will, stößt er schließlich und unvermutet auf den Panda-Imbiss, Sushi und Wok. Hier wird mit wenig Deutsch und beredeten Gesten der ganzen Welt zu essen serviert. Afrikaner, Türken, Araber und Asiaten, Deutsche im Anzug, aber auch solche mit selbstgestrickten Pullovern, Autonome, Mädchen im Kopftuch, Kinder und Greise lassen sich riesige Portionen gebratener Nudeln, schmackhafte chinesische und thailändische Karte und ein fabelhaft frisches und großzügig ausgestattetes Sushi schmecken. Die Gespräche werden lebhaft und in den verschiedensten Sprachen geführt. Vielleicht hat Globalisierung so doch noch ihre positiven Aspekte. Vielleicht beginnt an solchen Orten irgendwann ein neuer Ansatz des Fragens und des Wissens, vielleicht entstehen mit den Facebook- und Twitter-Revolutionen neue Diskussionen, vielleicht beginnt die ökonomische Alphabetisierung unser Gesellschaft an ebenso unvermuteter Stelle. Wenn das Theater und sein Publikum nicht sehr gut aufeinander achten, ist es sogar sehr wahrscheinlich, das der Impuls nicht vom Theater ausgehen wird. Und das ist eigentlich schade.

Posted in: Allgemein, in der Diskussion, Wenn einer eine Reise tut Tagged: Dreigroschenoper, Gastspiel, Rüsselsheim, unterwegs

Alltagstheater

16. Mai 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Dem Theaterreisenden entlarvt sich die Welt als Theater. Der Alltag baut im Geheimen seine unvermutet entdeckten, bespielten und unbespielten kleinen Bühnen. Oft werden sie nur sichtbar, wenn sie gerade nicht bespielt werden. Es können durch Zufall entstandene oder absichtlich herbeigeführte Inszenierungen sein, für die sie geschaffen wurden; in einem Blick kann sich ein Theater auftun und selbst ein barockes Deckengemälde entlarvt sich dem Theaterreisenden als das, als was es gemeint war: als eine eingefrorene Aufführung zwischen Schwerkraft und Verzückung. Von unseren Reisen vor allem mit den Stücken Eduardo de Filippos erzählt unter diesem Gesichtspunkt eine kleine Galerie – aus Schlanders in Südtirol, aus Lübeck, Landberg am Lech, aus Schaffhausen in der Schweiz und aus Cuxhaven an der Nordsee.

 











Posted in: Allgemein, Wenn einer eine Reise tut Tagged: Foto, Fotos, Theater

„Das Volk ist nicht tümlich.“

16. Mai 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Reisen mit den Stücken Eduardo de Filippos.

Die Stücke Eduardo de Filippos gelten als Volkstheater. Wir reisen mit seinen Stücken Diese Gespenster, Verrückt und Die Kunst der Komödie durch den deutschen Sprachraum. Wir reisen also als Volkstheater, allerdings mit einem etwas ungewöhnlichen Volkstheater. Was ist eigentlich Volkstheater? Tausend Möglichkeiten gibt es da. Aber gibt es die wirklich? Gibt es überhaupt Volkstheater?

Es gibt vor allem einige fatale Vorurteile darüber, was Volkstheater ist und was es zu sein hat. Bei uns in Deutschland muss das Volkstheater vor allem volkstümlich sein. In der Bundesrepublik seit 1945 ist das Volkstheater durchaus nicht nur zum Lachen da! Es ist das Sprachrohr der mittelständischen Vox Populi, des Spießers eigentliches Wunderhorn. Grundlage seiner Geschichten ist immer eine Gegenwart, wie sie laut seiner Meinung eigentlich sein sollte; eine Welt, in der das Wünschen noch immer sofort geholfen hat. Der Konflikt ist ebenso kurzweilig wie kurzfristig lösbar. Wir kennen die Lösung natürlich bereits, nur die Schauspieler hinken noch etwas hinterher. Ganz köstlich! Wir können dem Kasperl zubrüllen, dass das Krokodil hinter ihm steht. Das Schicksal klärt sich auf wie das Wetter. Deutsches Volkstheater ist kein Theater, das Wirklichkeit aufklären, sondern eher die Realitäten in einen Dornröschenschlaf singen will. Es bietet einfach mal einen schönen Abend, zwei Stunden Erholung von der Wirklichkeit, ein virtuelles Glück, verbracht in einer Welt, in der man ja von vornherein recht hatte. Es wird bevölkert von Menschen die einem ausnahmslos so recht aus der Seele sprechen, was immer sie sagen. Dieses Theater sieht man meist nicht auf der Bühne. Man sieht es in der Regel im Fernsehen.

Bertolt Brecht sagte: Das Volk ist nicht tümlich. Ist diese Volkstümlichkeit nicht ein schlimmer Schwindel? Wäre denn der ein Volkstheaterautor, wäre denn das ein Volkstheater, der oder das alles einmal ganz und gar anders machte? Gibt es ein Volkstheater, dem das reale Problem zu Grunde liegt, das Problem, das wirklich das Fakt und Sache ist; ein Volkstheater, in dem sich der Vorhang über eben den Tatsachen öffnet, vor denen man nicht nur im Theater lieber die Augen verschlossen hätte? Ein Volkstheater, in dem die Geschichten ebenso wenig gut ausgeht wie sie anfingen und wie sie ausgeführt wurden, ein Volkstheater mit der Komik der Vergeblichkeit und den Heldentaten aussichtsloser Kämpfe? Könnte nicht das ein anderes Volkstheater sein, das die Zeitung aufschlägt und auf der Suche nach den Helden ohne Namen die Geschichten auf der letzten Seite und der Rubrik Aus aller Welt unter die Lupe nimmt? Gibt es ein Volkstheater, in dem wir nicht über Putzigkeit und Drolligkeiten lacht, die wir an uns selbst so lieb gewonnen haben? Gibt es ein Volkstheater, das seinen Witz dem Nachdenken über den wirklichen Verlauf des Lebens in einer wirklichen Welt verdankt? Ist das ein Volkstheater, in dem man unvermutet nachdenkt? Und ist es dann noch ein Volkstheater geblieben ist? Ins Fernsehen schafft es so etwas hierzulande eher nicht. Man sieht es gelegentlich auf der Bühne.

Eduardo

Eduardo de Filippo stammte aus Neapel. Hierzulande ist sein Name eher unbekannt. Als er aber 1981 in seiner Heimat Italien die höchste Auszeichnung des Staates empfängt, schreiben die Zeitungen nicht, Eduardo de Filippo habe diese Auszeichnung erhalten. Sie schreiben einfach Eduardo Senator auf Lebenszeit. Jeder Italiener wusste sofort, wer gemeint war.

Vor Gericht.

Anlässlich dieser Auszeichnung wird der Autor zahlloser Theaterstücke von einem Journalisten gefragt, woher ihm dieser Reichtum an Stoffen und Figuren eigne, wie er denn auf seine Geschichten käme, woher er denn seine Anregungen bezöge, was die Quelle seiner nie versiegenden schöpferischen Kraft sei? Eduardo de Filippo antwortet, er sei kein großer Leser und verbrächte wohl die meiste Zeit im Theater. Habe er dennoch einmal einige freie Stunden, so besuche er fast immer die Strafprozesse des Volksgerichtes von Neapel. Nicht etwa die sensationellen Prozesse sähe er sich an, sondern die alltäglichen Aburteilungen von Einbruch, Diebstahl, Trickbetrug, Heiratsschwindel oder bewaffnetem Überfall. Was er dort an Mut, Einfallsreichtum, Witz, List und überraschender Finte, aber auch an Bosheit, Schlauheit, Grausamkeit und Kälte erlebt habe, welchen aufopfernden Heldenmut und welche Größe die kleinen Leute von Neapel im Kampf um ihr Leben und Überleben dort an den Tag legten, das seien die größten ihm bekannten Beispiele von Tragödie und Komödie, hier läge die Quelle seiner Inspiration in reinster Form offen.

Ein Leben in Neapel.

Neapel ist die italienische Stadt der Künste, der Musik, des Liedes und der Poesie. Eduardo de Filippo, 1900 in Neapel geboren, hat tatsächlich ein ganzes Leben lang in Neapel wie auch im Theater verbracht. Bereits als Kind und Jugendlicher stand er auf der Bühne. Er bildete mit seinen Geschwistern den Kern seiner eigene Truppe, er schrieb, inszenierte und leitete bald sein eigenes Haus. Seine erste Ehe dauerte nur wenige Monate. Dann bat er seine Frau um Verzeihung, er könne nicht verheiratet sein. Eduardo de Filippo lebte mit dem Theater zusammen.

Die Italiener liebten ihren Eduardo als Schauspieler ebenso wie als Geschichtenerzähler. Roberto Ciulli sah diesen in ganz Italien berühmten Schauspieler noch auf der Bühne und weiß anschaulich von seiner Wirkung zu berichten. Ein kleiner, fast zarter Mann betrat die Bühne, mit einem scharf geschnittenen Gesicht, das sich kaum regte, das niemals lachte oder auch nur lächelte. Am ehesten sei er dem Stummfilmschauspieler Buster Keaton, seine Physiognomie der des Dichters Samuel Beckett vergleichbar gewesen. Der Mann, der sein Publikum zu Begeisterungstürmen hinreißen konnte, hatte eine dunkle Ausstrahlung, eine Ausstrahlung wie die von Hunger und Tod.

Seine Geschwister und er waren die illegitimen Kinder eines populären neapolitanischen Schauspielers und Theaterdirektors, der großen Eduardo Scapetta. Seine Mutter war dessen Geliebte und Garderobiere gewesen. Scapetta hat sich zeitlebens nie zu diesen Kindern bekannt. Natürlich wusste ganz Neapel trotzdem davon, und da Scapetta die Angewohnheit hatte, die Mutter Eduardos nach den Vorstellungen in seine Garderobe zu rufen, er habe soeben einen Knopf verloren, ging bei seinem Publikum die Rede, Eduardo sei das Kind eines Knopfes.

Ein Ibsen für die Armen, ein Ibsen des Gelächters.

Eduardo litt entsetzlich unter dieser Verleumdung. Es verwundert nicht, dass seine Geschichten und Stücke immer wieder den Schein der Wirklichkeit befragen und überraschend zu Tage führen, was einer scheinbar realen Geschichte als eine zweite und gar eine dritte verborgene Wahrheit und neue Geschichte zugrunde liegen kann. Dabei werden seine Fabeln um die armen Leute von Neapel zu Gleichnissen. Eduardo de Filippo legt die in den höchst individuellen kleinen Tragödien des Scheiterns und des Sterbens und die in den kleinen Siegen enthaltene Gültigkeit für uns alle frei. Er enthüllt die große Philosophie in der Erzählung des von Not und Hunger geprägten Alltags Neapels. Das Lachen über seine Pointen ist eine Befreiung, die in der Erkenntnis liegt; einer Erkenntnis, die vom Leid emanzipiert, in dem sie es anerkennt, ohne es hinter sich zu lassen, zu beschönigen oder gar zu versöhnen.

Neorealismo

Eduardo de Filippo wurde mit dieser Art zum Vater einer der bedeutendsten künstlerischen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Kino Fellinis, Rosselinis, Zefirellis und de Sicas bezogen sich auf seine Techniken und wäre ohne seine Arbeit undenkbar. Roland Barthes schrieb, der Neorealismo sei in erster Linie ein moralischer Begriff, der genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen. Eben das liegt den Stücken de Filippos zugrunde.

Das Volk ist nicht tümlich.

Wir reisen gegenwärtig mit drei Stücken de Filippos durch den deutschen Sprachraum. Diese Gespenster, Verrückt und Die Kunst der Komödie haben einen weiten Weg von Neapel bis zu uns zurückgelegt, mit uns legen sie weitere Wegstrecken zurück und stehen in unvermuteten Bezügen vor ihrem Publikum.

In Schlanders in Südtirol, wo es auch zu den finanziellen Schwerpunkten des Kulturpolitik gehört, deutschsprachiges Theater wie deutsche Literatur zu pflegen, tritt der Italiener in deutscher Übersetzung wie unvermutet vor sein italienisches und deutschsprachiges Publikum. In Landsberg am Lech in Bayern oder auch in Cuxhaven an der Nordsee, in Lübeck, aber auch in Leverkusen, Solingen und Velbert sind die Reaktionen ähnlich. De Filippo kommt unvermutet. Er überrumpelt nicht, aber er zieht dem Zuschauer den gewohnten Teppich der amüsierten Rezeption unmittelbar vor den Füßen weg und lädt ein zu einem Schritt ins Leere. Was ist das? Worum geht es da wirklich? Mit dieser Frage ist der nette Abend torpediert und plötzlich ein interessanter Abend geworden. Was wollen die? Wer sind die wirklich? Die auf der Bühne werden’s einem nur dann sagen, wenn man unmittelbar hinsieht, ohne Erwartungshaltung und wie mitten im Leben. De Filippo ist gewöhnungsbedürftig. Man muss sich an ihn gewöhnen.

Diese Stücke kommen von weit her. Sie haben die Reise gut überstanden – aber was ist das? Wie seht, wie liest man das? Wie lacht man da? Es ist, als serviere man hungrigen und wohlwollenden Essern ein unbekanntes Gericht. Man zaudert anfänglich. Man riskiert das Lachen erst einzeln. Manchmal fällt man auch unvermutet in das Lachen hinein wie man eine Treppenstufe herunter stolpert. Man spürt weit eher die Konzentration des Publikum als sein Amüsement. Beim Applaus hat es den Abend in der Regel lieben gelernt. Und das Publikum weiß überall sehr genau, dass Bertolt Brecht recht hat und das Volk keineswegs tümlich ist. Spätestens nach einer Vorstellung von Eduardo de Filippo kommt man nicht mehr darum herum.

In den guten alten Zeiten, als das Theater noch geholfen hat

Eduardo de Filippos Stücke kommen aus einer Zeit und von einem Ort, an dem niemals das Wünschen sondern höchstens das Theater geholfen hat. Ob sie in unseren Kulturlandschaften wirklich einmal ein anderes, ein neues Volkstheater werden können – das ist eine Sache nicht ihrer sondern eher unserer eigenen Zukunft. De Filippos Stücke haben das ihre dazu lange getan. Wir müssen uns noch etwas bewegen.

 

Posted in: Allgemein Tagged: De Filippo, Eduardo, Gespenster, Komödie, Kunst der Komödie

Die Erfahrung der stillen Kollegen.

28. April 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Den einstigen Darstellern, die die Sammlungen des Theaterfigurenmuseums in Lübeck bewohnen, sind ihre Erfahrungen seit dem Guignol aus den Tagen der französischen Revolultion eindrücklich anzusehen. Sie sprechen in allen Welt- und Kulutursprachen zu uns. Die Kostüme der menschlichen Spieler, die ihren ganzen Körper auf eine Puppe reduzierten oder ihn ganz und gar zum Theater machten, berühren ebenso wie das Bild des asiatischen Amphytrion; eines japanischen Spielers, von seiner Puppe in Leidenschaft versetzt. Heinrich von Kleists Text Über das Marionettentheater hat recht. Er muss wieder und wieder gelesen werden.








Posted in: Allgemein Tagged: Foto, Fotos

Man muss sich an morgen erinnern!

15. Dezember 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Aus einem Gespräch mit Roberto Ciulli über Gestern, Heute und Morgen auf dem Theater anlässlich der Premiere am 16. 12. 2010.

Die Aufführung der Traumnovelle Arthur Schnitzlers, die in der Bearbeitung und Regie Simone Thomas am 16. Dezember 2010 Premiere im Theater an der Ruhr am Raffelberg feiern wird, bezieht sich wie keine unserer Aufführungen auf die reale Geschichte unseres heutigen Bühnenhauses, vor 1981, als sich das Theater an der Ruhr in den Räumen des ehemaligen Solbades Raffelberg gründete. Das ehemalige Erholungsheim kehrt in traumhaften Bildern auf die Bühne zurück, ebenso wie das Leben, die Programme und Festlichkeiten in Speise- und Redoutensaal um 1911. Ein Herzstück aus diesen Tagen wird das Zentrum des Bühnenraumes markieren. Einer der Kronleuchter aus dem Redoutensaal hat in den Lagerräumen des Theaters an der Ruhr nun über dreißig Jahre auf seinen Auftritt gewartet. Anlässlich dieser Premiere feiert er das Debut in seine Theaterzukunft hinein.

Eine Figur Federico Garcia Lorcas sagt in Roberto Ciullis Projekt Dona Rosita, man müsse sich erinnern, aber umgekehrt – man müsse sich an morgen erinnern. Das Paradox ist schnell gelöst. Das Theater selbst hat sich in der Geschichte Europas stets an Morgen erinnert. Dies war eine seiner wichtigsten Funktionen. Der Figaro des Beaumarchais war es, der als Sturmvogel der Revolution mit seiner Premiere die Geburt der Revolution und ihrer Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einläutete. Die Mannheimer Uraufführung von Schillers Räubern, vom Publikum als ekstatisches Erlebnis gefeiert, markiert den Beginn von Sturm und Drang, dessen erste demokratische Impulse direkt in den Vormärz und keine siebzig Jahre später in die Frankfurter Paulskirche führten. Aber auf dem Theater bedeutet es mehr, sich an morgen zu erinnern.

Die Traumnovelle nimmt am Theater an der Ruhr unter Aufführungen ihren Platz ein, die zum Teil älter als zwanzig Jahre sind. Dennoch haben auch sie bis heute nichts von ihrer Gegenwärtigkeit und Aktualität eingebüßt. Fast könnte man sagen, sie hätten bei ihrer Premiere ihr zukünftiges Publikum erst finden müssen. Ihre Zuschauer erst oftmals provozierend und verstörend, haben sie sie letztlich in eine Zukunft begleitet, in der sie erst allgemein verstanden werden konnten. Sie waren ihrer Zeit voraus, was das Theater stets sein sollte. Sie erreichten nicht nur hiesiges, sie erreichten überregionales und internationales Publikum. Sie wurden im Verlauf von mehr als einem Jahrzehnt nicht etwa alt. Einige wurden von Skandalen zu großen Publikumserfolgen.

Roberto Ciulli, in der Traumnovelle in der Rolle des Dr. Adler zu sehen, hat in den letzten zwei Monaten eine Reihe von Theaterführungen ins Leben gerufen, in denen er selbst durch die Räume des Hauses führt und Geschichten aus dreißig Jahren erzählt. Er spricht über die Vergangenheit; Gegenwart und Zukunft, die das Theater braucht, um sich an morgen zu erinnern.

Ohne Vergangenheit kann es selbst am Theater keine Zukunft geben. Aber im Kulturbetrieb der alten wie auch der neuen Bundesrepublik wird oftmals brutal datiert, wenn die Leitung eines Theaters wechselt. Der neue Intendant definiert als erstes das fiktive Jahr Null einer Zeitrechnung von seiner eigenen Gnaden, er löscht den alten Intendanten und seine Arbeit aus.

Damit spiegelt er die Methoden und den Wertbegriff der Konsumgesellschaft. Aber auch seine eigenen Aufführungen überleben selten eine Spielzeit und damit nicht einmal ein Jahr. Oft ist der nicht sofort akzeptierte Abend nach nur acht Vorstellungen abgewickelt – ein Abend, der unabhängig von seinem künstlerischen Wert immense Summen verschlungen hat. Neuproduktion, Wegwerfen und erneute Produktion sind der Herzschlag der Industrie wie der Kulturindustrie – und der Kultur, die die industriellen Gesellschaften hervorbringen. So wird die Voraussetzung für Erinnerung in unserer Kultur ausgelöscht.

Die Gefahr ist klar ersichtlich. Keine Zukunft kann dort erfunden werden, wo keine Gegenwart ist. Wo aber keine Vergangenheit ist, kann Gegenwärtiges weder verstanden noch gekonnt manifestiert werden.

Das Theater an der Ruhr geht den umgekehrten Weg. Wie die Clowns, wie bereits die Commedia de’ll Arte benötigt das Theater sein Handwerk. Aber das Handwerk des Theaters ist kein überzeitlicher Regelkanon. Es ist Resultat der lebendigen Tradition derer, von denen wir gelernt haben. Sie lebt dadurch fort, dass wir Heutigen sie lernend verändern und aktualisieren.

Das Theater an der Ruhr hat sich für seinen Weg der eigenen Tradition und ihrer Aktualisierung entschieden. Dieser Grundgedanke kommt heute nach nunmehr dreißig Jahren zu einer Erfüllung, die man tatsächlich erleben kann. Wir Theatermacher wie auch das Publikum haben klar vor Augen, was vor dreißig Jahren vorgestellt wurde. Wir können den Weg sehen, den wir gegangen sind. Wir können sehen, wie wir uns geändert haben. Und wir können sehen, wie sich die Welt und die Gesellschaft geändert haben, die unsere Aufführungen besucht.

Eine junge Generation kann auf der Bühne etwas sehen, was es bereits seit mehr als zehn Jahren gibt. Das ist in der heutigen Theaterlandschaft sehr selten geworden. Nicht nur thematische Aktualität, auch durchlebte Geschichte wird in den Aufführungen immer wieder von neuem aktualisiert und sinnenfällig gemacht. So wird auch in den älteren Vorstellungen des Theaters an der Ruhr – in klarer Überschau von künstlerischer Vergangenheit und Gegenwart – die Zukunft immer wieder neu erfunden. Eine Reihe von Vorstellungen bieten dieses Erlebnis an. Kaspar, Antigone, Der Kaufmann von Venedig und Gott haben die längsten Geschichten zu erzählen.

Nur zwei andere Theatermacher im deutschen Sprachraum haben die Aufführungen ihrer Häuser genau so als das Kapital ihrer Unternehmen verstanden und sie gegen den Ungeist des Wegwerfens durchgesetzt. Es waren Claus Peymann mit seiner Iphigenie und den Uraufführungen der Stücke von Thomas Bernhard – und Pina Bausch, die allen ihre Arbeiten eine erwachsene Biographie ermöglichte.

Fragt sich ein Schauspieler, warum er nach mehr als zehn Jahren immer noch am Theater an der Ruhr ist, so kann einer seiner Gründe die Tatsache sein, dass es hier die Möglichkeit gibt, mit der Rolle erwachsen oder gar alt zu werden. Sie wird ein Teil seines Lebens. Es ist für den Schauspieler in der Regel möglich, sein Leben am Theater an der Ruhr verbringen, wenn er sich dafür entschieden hat. Auch wenn er dabei zehn Jahre durch die Hölle gehen muss, kann er in dieser Zeit das Einzigartige finden, das kein Schauspieler außer ihm verkörpern kann. Dies zu entdecken muss er einen großen Teil seines Lebens investieren. Aber er muss diese Hölle nicht im endlosen Rhythmus von Wegwerfen und Neuproduktion wiederholen. Von den Genieschauspielern sehen wir übrigens dabei ab – aber auch der Unbegabteste weiß nach dreißig Jahren, was er da spielt. Das ist sicher.

Der Kronleuchter hängt bereits auf den Proben und erwartet seine Premiere. Aber er ist nicht ganz der selbe geblieben. Er ist aktualisiert. Er ist verändert. Er ist seiner Vergangenheit ähnlicher und zugleich zukunftstauglicher gemacht worden. Nun ist er in der Lage Bühnenschatten zu werfen und Bühnenlicht zu spenden, wie es uns auch in vielen Jahren noch verzaubern und entzücken kann.

Bild des Kronleuchters und Portrait R. Ciulli von Peter Kapusta
Posted in: Allgemein Tagged: Ciulli, Roberto, Traumnovelle
« Zurück 1 2 3 Weiter »

Zum Geleit

Das Ensemble des Theater an der Ruhr begrüßt Sie herzlich! In laufenden Einträgen, auf Themenseiten und in unseren Kommentaren und Diskussionen laden wir Sie herzlich zur Lektüre, Lob und Widerworten ein. Begleiten Sie uns auf unseren Reisen durch den deutschen Sprachraum, Weltstädte und andere Kontinente - und vor allem durch die stets veränderlichen Landschaften in unseren Theaterköpfen und Bühnenherzen! Viel Freude Ihnen und uns! Gehen Sie ins Theater, wir raten es Ihnen!

Gesucht wird:

Seiten

  • Gästebuch
  • K.B.B.
  • Reiseerinnerungen
  • ruhrorter straße, probenraum

Archive

Neueste Beiträge

  • Timeline des Theater an der Ruhr
  • Spielzeit 2016/2017 mit Büchner und Mrożek eröffnet. Eine Notiz.
  • Aus den Proben zu „Die Wupper“ von Else Lasker Schüler am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Theater an der Ruhr in Mülheim.
  • Lassen Sie uns Jahrmarkt bauen!
  • Der Muezzin in Metz
  • Probeneindrücke zu Bernard Marie Koltès „Rückkehr in die Wüste“
  • Wann wird es endlich wieder werden, wie es niemals war?
  • Minnas Glück, Alkmenes Ach.
  • Aus den Proben zu ‚Minna von Barnhelm‘ von G. E. Lessing
  • Darum reisen wir!

Kategorien

  • Allgemein
  • Bemerkungen am Rande
  • Es wird probiert
  • in der Diskussion
  • Wenn einer eine Reise tut

Neueste Kommentare

  • Wilfried bei Reise nach Irak-Kurdistan vom 4. bis zum 16. April 2012
  • Elisabeth bei Wirklich?! :-(
  • Rolf Brand bei Minnas Glück, Alkmenes Ach.
  • zeppenfeld,peter bei Gästebuch
  • Christine bei Minnas Glück, Alkmenes Ach.

Theater

  • Theater an der Ruhr

Meta

  • Anmelden
  • Feed der Einträge
  • Kommentare-Feed
  • WordPress.org

Fotos und Beiträge

Der Verfasser der Beiträge ist stets erwähnt. Soweit die Fotografen nicht namentlich erwähnt sind, sind die Bilder stets von Rupert J. Seidl. Alle Rechte an Bild und Text sind bei den Verfassern.

Copyright © 2023 Warum reisen wir?.

Omega WordPress Theme by ThemeHall