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Warum reisen wir?

das onlinetagebuch des theater an der ruhr

„Das Volk ist nicht tümlich.“

16. Mai 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Reisen mit den Stücken Eduardo de Filippos.

Die Stücke Eduardo de Filippos gelten als Volkstheater. Wir reisen mit seinen Stücken Diese Gespenster, Verrückt und Die Kunst der Komödie durch den deutschen Sprachraum. Wir reisen also als Volkstheater, allerdings mit einem etwas ungewöhnlichen Volkstheater. Was ist eigentlich Volkstheater? Tausend Möglichkeiten gibt es da. Aber gibt es die wirklich? Gibt es überhaupt Volkstheater?

Es gibt vor allem einige fatale Vorurteile darüber, was Volkstheater ist und was es zu sein hat. Bei uns in Deutschland muss das Volkstheater vor allem volkstümlich sein. In der Bundesrepublik seit 1945 ist das Volkstheater durchaus nicht nur zum Lachen da! Es ist das Sprachrohr der mittelständischen Vox Populi, des Spießers eigentliches Wunderhorn. Grundlage seiner Geschichten ist immer eine Gegenwart, wie sie laut seiner Meinung eigentlich sein sollte; eine Welt, in der das Wünschen noch immer sofort geholfen hat. Der Konflikt ist ebenso kurzweilig wie kurzfristig lösbar. Wir kennen die Lösung natürlich bereits, nur die Schauspieler hinken noch etwas hinterher. Ganz köstlich! Wir können dem Kasperl zubrüllen, dass das Krokodil hinter ihm steht. Das Schicksal klärt sich auf wie das Wetter. Deutsches Volkstheater ist kein Theater, das Wirklichkeit aufklären, sondern eher die Realitäten in einen Dornröschenschlaf singen will. Es bietet einfach mal einen schönen Abend, zwei Stunden Erholung von der Wirklichkeit, ein virtuelles Glück, verbracht in einer Welt, in der man ja von vornherein recht hatte. Es wird bevölkert von Menschen die einem ausnahmslos so recht aus der Seele sprechen, was immer sie sagen. Dieses Theater sieht man meist nicht auf der Bühne. Man sieht es in der Regel im Fernsehen.

Bertolt Brecht sagte: Das Volk ist nicht tümlich. Ist diese Volkstümlichkeit nicht ein schlimmer Schwindel? Wäre denn der ein Volkstheaterautor, wäre denn das ein Volkstheater, der oder das alles einmal ganz und gar anders machte? Gibt es ein Volkstheater, dem das reale Problem zu Grunde liegt, das Problem, das wirklich das Fakt und Sache ist; ein Volkstheater, in dem sich der Vorhang über eben den Tatsachen öffnet, vor denen man nicht nur im Theater lieber die Augen verschlossen hätte? Ein Volkstheater, in dem die Geschichten ebenso wenig gut ausgeht wie sie anfingen und wie sie ausgeführt wurden, ein Volkstheater mit der Komik der Vergeblichkeit und den Heldentaten aussichtsloser Kämpfe? Könnte nicht das ein anderes Volkstheater sein, das die Zeitung aufschlägt und auf der Suche nach den Helden ohne Namen die Geschichten auf der letzten Seite und der Rubrik Aus aller Welt unter die Lupe nimmt? Gibt es ein Volkstheater, in dem wir nicht über Putzigkeit und Drolligkeiten lacht, die wir an uns selbst so lieb gewonnen haben? Gibt es ein Volkstheater, das seinen Witz dem Nachdenken über den wirklichen Verlauf des Lebens in einer wirklichen Welt verdankt? Ist das ein Volkstheater, in dem man unvermutet nachdenkt? Und ist es dann noch ein Volkstheater geblieben ist? Ins Fernsehen schafft es so etwas hierzulande eher nicht. Man sieht es gelegentlich auf der Bühne.

Eduardo

Eduardo de Filippo stammte aus Neapel. Hierzulande ist sein Name eher unbekannt. Als er aber 1981 in seiner Heimat Italien die höchste Auszeichnung des Staates empfängt, schreiben die Zeitungen nicht, Eduardo de Filippo habe diese Auszeichnung erhalten. Sie schreiben einfach Eduardo Senator auf Lebenszeit. Jeder Italiener wusste sofort, wer gemeint war.

Vor Gericht.

Anlässlich dieser Auszeichnung wird der Autor zahlloser Theaterstücke von einem Journalisten gefragt, woher ihm dieser Reichtum an Stoffen und Figuren eigne, wie er denn auf seine Geschichten käme, woher er denn seine Anregungen bezöge, was die Quelle seiner nie versiegenden schöpferischen Kraft sei? Eduardo de Filippo antwortet, er sei kein großer Leser und verbrächte wohl die meiste Zeit im Theater. Habe er dennoch einmal einige freie Stunden, so besuche er fast immer die Strafprozesse des Volksgerichtes von Neapel. Nicht etwa die sensationellen Prozesse sähe er sich an, sondern die alltäglichen Aburteilungen von Einbruch, Diebstahl, Trickbetrug, Heiratsschwindel oder bewaffnetem Überfall. Was er dort an Mut, Einfallsreichtum, Witz, List und überraschender Finte, aber auch an Bosheit, Schlauheit, Grausamkeit und Kälte erlebt habe, welchen aufopfernden Heldenmut und welche Größe die kleinen Leute von Neapel im Kampf um ihr Leben und Überleben dort an den Tag legten, das seien die größten ihm bekannten Beispiele von Tragödie und Komödie, hier läge die Quelle seiner Inspiration in reinster Form offen.

Ein Leben in Neapel.

Neapel ist die italienische Stadt der Künste, der Musik, des Liedes und der Poesie. Eduardo de Filippo, 1900 in Neapel geboren, hat tatsächlich ein ganzes Leben lang in Neapel wie auch im Theater verbracht. Bereits als Kind und Jugendlicher stand er auf der Bühne. Er bildete mit seinen Geschwistern den Kern seiner eigene Truppe, er schrieb, inszenierte und leitete bald sein eigenes Haus. Seine erste Ehe dauerte nur wenige Monate. Dann bat er seine Frau um Verzeihung, er könne nicht verheiratet sein. Eduardo de Filippo lebte mit dem Theater zusammen.

Die Italiener liebten ihren Eduardo als Schauspieler ebenso wie als Geschichtenerzähler. Roberto Ciulli sah diesen in ganz Italien berühmten Schauspieler noch auf der Bühne und weiß anschaulich von seiner Wirkung zu berichten. Ein kleiner, fast zarter Mann betrat die Bühne, mit einem scharf geschnittenen Gesicht, das sich kaum regte, das niemals lachte oder auch nur lächelte. Am ehesten sei er dem Stummfilmschauspieler Buster Keaton, seine Physiognomie der des Dichters Samuel Beckett vergleichbar gewesen. Der Mann, der sein Publikum zu Begeisterungstürmen hinreißen konnte, hatte eine dunkle Ausstrahlung, eine Ausstrahlung wie die von Hunger und Tod.

Seine Geschwister und er waren die illegitimen Kinder eines populären neapolitanischen Schauspielers und Theaterdirektors, der großen Eduardo Scapetta. Seine Mutter war dessen Geliebte und Garderobiere gewesen. Scapetta hat sich zeitlebens nie zu diesen Kindern bekannt. Natürlich wusste ganz Neapel trotzdem davon, und da Scapetta die Angewohnheit hatte, die Mutter Eduardos nach den Vorstellungen in seine Garderobe zu rufen, er habe soeben einen Knopf verloren, ging bei seinem Publikum die Rede, Eduardo sei das Kind eines Knopfes.

Ein Ibsen für die Armen, ein Ibsen des Gelächters.

Eduardo litt entsetzlich unter dieser Verleumdung. Es verwundert nicht, dass seine Geschichten und Stücke immer wieder den Schein der Wirklichkeit befragen und überraschend zu Tage führen, was einer scheinbar realen Geschichte als eine zweite und gar eine dritte verborgene Wahrheit und neue Geschichte zugrunde liegen kann. Dabei werden seine Fabeln um die armen Leute von Neapel zu Gleichnissen. Eduardo de Filippo legt die in den höchst individuellen kleinen Tragödien des Scheiterns und des Sterbens und die in den kleinen Siegen enthaltene Gültigkeit für uns alle frei. Er enthüllt die große Philosophie in der Erzählung des von Not und Hunger geprägten Alltags Neapels. Das Lachen über seine Pointen ist eine Befreiung, die in der Erkenntnis liegt; einer Erkenntnis, die vom Leid emanzipiert, in dem sie es anerkennt, ohne es hinter sich zu lassen, zu beschönigen oder gar zu versöhnen.

Neorealismo

Eduardo de Filippo wurde mit dieser Art zum Vater einer der bedeutendsten künstlerischen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Kino Fellinis, Rosselinis, Zefirellis und de Sicas bezogen sich auf seine Techniken und wäre ohne seine Arbeit undenkbar. Roland Barthes schrieb, der Neorealismo sei in erster Linie ein moralischer Begriff, der genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen. Eben das liegt den Stücken de Filippos zugrunde.

Das Volk ist nicht tümlich.

Wir reisen gegenwärtig mit drei Stücken de Filippos durch den deutschen Sprachraum. Diese Gespenster, Verrückt und Die Kunst der Komödie haben einen weiten Weg von Neapel bis zu uns zurückgelegt, mit uns legen sie weitere Wegstrecken zurück und stehen in unvermuteten Bezügen vor ihrem Publikum.

In Schlanders in Südtirol, wo es auch zu den finanziellen Schwerpunkten des Kulturpolitik gehört, deutschsprachiges Theater wie deutsche Literatur zu pflegen, tritt der Italiener in deutscher Übersetzung wie unvermutet vor sein italienisches und deutschsprachiges Publikum. In Landsberg am Lech in Bayern oder auch in Cuxhaven an der Nordsee, in Lübeck, aber auch in Leverkusen, Solingen und Velbert sind die Reaktionen ähnlich. De Filippo kommt unvermutet. Er überrumpelt nicht, aber er zieht dem Zuschauer den gewohnten Teppich der amüsierten Rezeption unmittelbar vor den Füßen weg und lädt ein zu einem Schritt ins Leere. Was ist das? Worum geht es da wirklich? Mit dieser Frage ist der nette Abend torpediert und plötzlich ein interessanter Abend geworden. Was wollen die? Wer sind die wirklich? Die auf der Bühne werden’s einem nur dann sagen, wenn man unmittelbar hinsieht, ohne Erwartungshaltung und wie mitten im Leben. De Filippo ist gewöhnungsbedürftig. Man muss sich an ihn gewöhnen.

Diese Stücke kommen von weit her. Sie haben die Reise gut überstanden – aber was ist das? Wie seht, wie liest man das? Wie lacht man da? Es ist, als serviere man hungrigen und wohlwollenden Essern ein unbekanntes Gericht. Man zaudert anfänglich. Man riskiert das Lachen erst einzeln. Manchmal fällt man auch unvermutet in das Lachen hinein wie man eine Treppenstufe herunter stolpert. Man spürt weit eher die Konzentration des Publikum als sein Amüsement. Beim Applaus hat es den Abend in der Regel lieben gelernt. Und das Publikum weiß überall sehr genau, dass Bertolt Brecht recht hat und das Volk keineswegs tümlich ist. Spätestens nach einer Vorstellung von Eduardo de Filippo kommt man nicht mehr darum herum.

In den guten alten Zeiten, als das Theater noch geholfen hat

Eduardo de Filippos Stücke kommen aus einer Zeit und von einem Ort, an dem niemals das Wünschen sondern höchstens das Theater geholfen hat. Ob sie in unseren Kulturlandschaften wirklich einmal ein anderes, ein neues Volkstheater werden können – das ist eine Sache nicht ihrer sondern eher unserer eigenen Zukunft. De Filippos Stücke haben das ihre dazu lange getan. Wir müssen uns noch etwas bewegen.

 

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Die Erfahrung der stillen Kollegen.

28. April 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Den einstigen Darstellern, die die Sammlungen des Theaterfigurenmuseums in Lübeck bewohnen, sind ihre Erfahrungen seit dem Guignol aus den Tagen der französischen Revolultion eindrücklich anzusehen. Sie sprechen in allen Welt- und Kulutursprachen zu uns. Die Kostüme der menschlichen Spieler, die ihren ganzen Körper auf eine Puppe reduzierten oder ihn ganz und gar zum Theater machten, berühren ebenso wie das Bild des asiatischen Amphytrion; eines japanischen Spielers, von seiner Puppe in Leidenschaft versetzt. Heinrich von Kleists Text Über das Marionettentheater hat recht. Er muss wieder und wieder gelesen werden.








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Man muss sich an morgen erinnern!

15. Dezember 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Aus einem Gespräch mit Roberto Ciulli über Gestern, Heute und Morgen auf dem Theater anlässlich der Premiere am 16. 12. 2010.

Die Aufführung der Traumnovelle Arthur Schnitzlers, die in der Bearbeitung und Regie Simone Thomas am 16. Dezember 2010 Premiere im Theater an der Ruhr am Raffelberg feiern wird, bezieht sich wie keine unserer Aufführungen auf die reale Geschichte unseres heutigen Bühnenhauses, vor 1981, als sich das Theater an der Ruhr in den Räumen des ehemaligen Solbades Raffelberg gründete. Das ehemalige Erholungsheim kehrt in traumhaften Bildern auf die Bühne zurück, ebenso wie das Leben, die Programme und Festlichkeiten in Speise- und Redoutensaal um 1911. Ein Herzstück aus diesen Tagen wird das Zentrum des Bühnenraumes markieren. Einer der Kronleuchter aus dem Redoutensaal hat in den Lagerräumen des Theaters an der Ruhr nun über dreißig Jahre auf seinen Auftritt gewartet. Anlässlich dieser Premiere feiert er das Debut in seine Theaterzukunft hinein.

Eine Figur Federico Garcia Lorcas sagt in Roberto Ciullis Projekt Dona Rosita, man müsse sich erinnern, aber umgekehrt – man müsse sich an morgen erinnern. Das Paradox ist schnell gelöst. Das Theater selbst hat sich in der Geschichte Europas stets an Morgen erinnert. Dies war eine seiner wichtigsten Funktionen. Der Figaro des Beaumarchais war es, der als Sturmvogel der Revolution mit seiner Premiere die Geburt der Revolution und ihrer Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einläutete. Die Mannheimer Uraufführung von Schillers Räubern, vom Publikum als ekstatisches Erlebnis gefeiert, markiert den Beginn von Sturm und Drang, dessen erste demokratische Impulse direkt in den Vormärz und keine siebzig Jahre später in die Frankfurter Paulskirche führten. Aber auf dem Theater bedeutet es mehr, sich an morgen zu erinnern.

Die Traumnovelle nimmt am Theater an der Ruhr unter Aufführungen ihren Platz ein, die zum Teil älter als zwanzig Jahre sind. Dennoch haben auch sie bis heute nichts von ihrer Gegenwärtigkeit und Aktualität eingebüßt. Fast könnte man sagen, sie hätten bei ihrer Premiere ihr zukünftiges Publikum erst finden müssen. Ihre Zuschauer erst oftmals provozierend und verstörend, haben sie sie letztlich in eine Zukunft begleitet, in der sie erst allgemein verstanden werden konnten. Sie waren ihrer Zeit voraus, was das Theater stets sein sollte. Sie erreichten nicht nur hiesiges, sie erreichten überregionales und internationales Publikum. Sie wurden im Verlauf von mehr als einem Jahrzehnt nicht etwa alt. Einige wurden von Skandalen zu großen Publikumserfolgen.

Roberto Ciulli, in der Traumnovelle in der Rolle des Dr. Adler zu sehen, hat in den letzten zwei Monaten eine Reihe von Theaterführungen ins Leben gerufen, in denen er selbst durch die Räume des Hauses führt und Geschichten aus dreißig Jahren erzählt. Er spricht über die Vergangenheit; Gegenwart und Zukunft, die das Theater braucht, um sich an morgen zu erinnern.

Ohne Vergangenheit kann es selbst am Theater keine Zukunft geben. Aber im Kulturbetrieb der alten wie auch der neuen Bundesrepublik wird oftmals brutal datiert, wenn die Leitung eines Theaters wechselt. Der neue Intendant definiert als erstes das fiktive Jahr Null einer Zeitrechnung von seiner eigenen Gnaden, er löscht den alten Intendanten und seine Arbeit aus.

Damit spiegelt er die Methoden und den Wertbegriff der Konsumgesellschaft. Aber auch seine eigenen Aufführungen überleben selten eine Spielzeit und damit nicht einmal ein Jahr. Oft ist der nicht sofort akzeptierte Abend nach nur acht Vorstellungen abgewickelt – ein Abend, der unabhängig von seinem künstlerischen Wert immense Summen verschlungen hat. Neuproduktion, Wegwerfen und erneute Produktion sind der Herzschlag der Industrie wie der Kulturindustrie – und der Kultur, die die industriellen Gesellschaften hervorbringen. So wird die Voraussetzung für Erinnerung in unserer Kultur ausgelöscht.

Die Gefahr ist klar ersichtlich. Keine Zukunft kann dort erfunden werden, wo keine Gegenwart ist. Wo aber keine Vergangenheit ist, kann Gegenwärtiges weder verstanden noch gekonnt manifestiert werden.

Das Theater an der Ruhr geht den umgekehrten Weg. Wie die Clowns, wie bereits die Commedia de’ll Arte benötigt das Theater sein Handwerk. Aber das Handwerk des Theaters ist kein überzeitlicher Regelkanon. Es ist Resultat der lebendigen Tradition derer, von denen wir gelernt haben. Sie lebt dadurch fort, dass wir Heutigen sie lernend verändern und aktualisieren.

Das Theater an der Ruhr hat sich für seinen Weg der eigenen Tradition und ihrer Aktualisierung entschieden. Dieser Grundgedanke kommt heute nach nunmehr dreißig Jahren zu einer Erfüllung, die man tatsächlich erleben kann. Wir Theatermacher wie auch das Publikum haben klar vor Augen, was vor dreißig Jahren vorgestellt wurde. Wir können den Weg sehen, den wir gegangen sind. Wir können sehen, wie wir uns geändert haben. Und wir können sehen, wie sich die Welt und die Gesellschaft geändert haben, die unsere Aufführungen besucht.

Eine junge Generation kann auf der Bühne etwas sehen, was es bereits seit mehr als zehn Jahren gibt. Das ist in der heutigen Theaterlandschaft sehr selten geworden. Nicht nur thematische Aktualität, auch durchlebte Geschichte wird in den Aufführungen immer wieder von neuem aktualisiert und sinnenfällig gemacht. So wird auch in den älteren Vorstellungen des Theaters an der Ruhr – in klarer Überschau von künstlerischer Vergangenheit und Gegenwart – die Zukunft immer wieder neu erfunden. Eine Reihe von Vorstellungen bieten dieses Erlebnis an. Kaspar, Antigone, Der Kaufmann von Venedig und Gott haben die längsten Geschichten zu erzählen.

Nur zwei andere Theatermacher im deutschen Sprachraum haben die Aufführungen ihrer Häuser genau so als das Kapital ihrer Unternehmen verstanden und sie gegen den Ungeist des Wegwerfens durchgesetzt. Es waren Claus Peymann mit seiner Iphigenie und den Uraufführungen der Stücke von Thomas Bernhard – und Pina Bausch, die allen ihre Arbeiten eine erwachsene Biographie ermöglichte.

Fragt sich ein Schauspieler, warum er nach mehr als zehn Jahren immer noch am Theater an der Ruhr ist, so kann einer seiner Gründe die Tatsache sein, dass es hier die Möglichkeit gibt, mit der Rolle erwachsen oder gar alt zu werden. Sie wird ein Teil seines Lebens. Es ist für den Schauspieler in der Regel möglich, sein Leben am Theater an der Ruhr verbringen, wenn er sich dafür entschieden hat. Auch wenn er dabei zehn Jahre durch die Hölle gehen muss, kann er in dieser Zeit das Einzigartige finden, das kein Schauspieler außer ihm verkörpern kann. Dies zu entdecken muss er einen großen Teil seines Lebens investieren. Aber er muss diese Hölle nicht im endlosen Rhythmus von Wegwerfen und Neuproduktion wiederholen. Von den Genieschauspielern sehen wir übrigens dabei ab – aber auch der Unbegabteste weiß nach dreißig Jahren, was er da spielt. Das ist sicher.

Der Kronleuchter hängt bereits auf den Proben und erwartet seine Premiere. Aber er ist nicht ganz der selbe geblieben. Er ist aktualisiert. Er ist verändert. Er ist seiner Vergangenheit ähnlicher und zugleich zukunftstauglicher gemacht worden. Nun ist er in der Lage Bühnenschatten zu werfen und Bühnenlicht zu spenden, wie es uns auch in vielen Jahren noch verzaubern und entzücken kann.

Bild des Kronleuchters und Portrait R. Ciulli von Peter Kapusta
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Fliegende Teppiche

15. Dezember 2010 by Rupert Seidl 2 Comments

Der Musiker Gerd Posny

Gerd Posny, der Theatermusiker des Theaters an der Ruhr, zaubert mit Klangteppichen. Er hext mit Jingles. Genau genommen sind es mehr als Klangteppiche, die er den Schauspielern und Inszenierungen zur Verfügung stellt. Seine Arbeiten sind Klangteppiche, auf denen man fliegen kann. Die minimalistischen Variationen in seinen Kompositionen sind Klettergerüste. Es sind Stimmungen – wenig mehr. Aber es sind Stimmungen im Sinne der Stimmung von Musikinstrumenten. Sie sind also etwas sehr präzises. Stimmung auf der Bühne ist absolut nichts Vages oder Nebulöses.

Gerd Posny lernte die Direktionsassistentin Renate Grimaldi 1989 als freier Kamerahelfer kennen, als das Theater Trailer seiner Aufführungen für das Kino drehte. Das erste mal, als er durch ihre Vermittlung im Theater an der Ruhr aushalf – er hatte damals wenig mehr zu tun als die Bandmaschine einzuschalten – hatte er, wie er es nennt, ein Déja-Vorwärts. Er wusste in diesem Moment plötzlich und sehr entschieden, dass er von nun an sehr lang an diesem Theater arbeiten würde. Er fing unmittelbar darauf tatsächlich am Theater an der Ruhr an und fand nach einem Rundgang durch alle Abteilungen seinen Platz in der Tonabteilung. Nach seinem ersten Jahr heiratete er die Pianistin Katrin Lüttge. Er ist Vater von drei Kindern. Noch heute arbeitet und komponiert er für das Haus.

1995 trat er erstmals in der Inszenierung Im Dickicht der Städte als Darsteller und improvisierender Musiker auf. Seine erste eigene Theatermusik war ein Synthesizer – Sampler, ein kleiner Tango für die Aufführung Die Schlangenhaut von Slobodan Snajder.

Seine musikalische Vision über die Funktion der Theatermusik hat John Lennon zum Ausdruck gebracht, der vom dem Song For the Benefit of Mr. Kite auf der LP Sergeant Peppers forderte, er wolle das Heu in der Manege riechen können.

Die gleichermaßen optische Musik der Beatles, wie zum Beispiel in Fool on the hill, ist ihm immer wieder ein zentraler Orientierungspunkt. Der Traum von Gerd Posny ist der Traum von einer Musik, die nicht nur über die Ohren, sondern auch visuell, ja, über alle Sinne aufgenommen werden kann.

Er träumt von einer Musik, die mit allem zusammen klingt. Seine Musik will kein Herrschaftsrecht über die anderen Elemente der Bühnenwirklichkeit. Sie will nicht für sich alleine bestehen können. Licht, ein Stuhl auf der Bühne, eine Musik erzählen gemeinsam eine Geschichte, wie er sagt. Songs sind vor allem Geschichten für ihn. Das schottische Traditional Greensleeves ist dafür eines seiner liebsten Beispiele.

Er studierte Musik für das Lehramt, fand aber bereits nach den ersten Unterrichtsbesuchen die Vorstellung selbst zu unterrichten grauenvoll. Er brach das Studium ab. In der Gelsenkirchener Jazz und Art Galerie des Künstlers Lutz Motzko spielte er fortan regelmäßig. Dort fand er den Kontakt zu Größen der Jazzszene des Ruhrgebiets, zum Beispiel zu Achim Krämer, Georg Gräwe, Kai Kanthak und Helge Schneider. Er spielt in bedeutenden Ruhrgebietsbands aber auch in überregional bekannten Formationen, wie z.B. mit Extrabreit und Fehlfarben, mit denen er LPs einspielte.

Er arbeitet am Theater an der Ruhr, weil er die Freiheit der Musik in der Beschränkung auf ihre Funktion auf der Bühne genießt. Die untrennbare Verbindung der Musik mit dem Ganzen der Inszenierung ist ihm ein hoher Genuss. Er schätzt den Arbeitsansatz des Theaters an der Ruhr, nach dem sich die künstlerische Findung aus der kollektiven Intelligenz aller Beteiligten speist. Das sei, wie er sagt, am Theater an der Ruhr immer wieder neu zu erleben.

Hören Sie hier einige Beispiele aus seinen Musiken:

Musik zur Antigone

Kaufmann von Venedig / Tango

Es war ein König in Thule / Song mit Simone Thoma

Bürger Schippel / Auftrittsmusik

Bürger Schippel / Motiv

Bürger Schippel / Duell

Schlangenhaut / Walzer

Die Wände / Gefängnisthema

Portrait Gerd Posny von Peter Kapusta
Posted in: Allgemein Tagged: Gerd, Posny, Technik, Ton

14. November 2010 / „Gott“ im Emma-Theater Theater Osnabrück

18. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Wir tun drei Sorten von Reisen. Da wären erstens die mit dem Flugzeug, in die USA, den Iran, durch vier Länder Zentralasiens, nach Lateinamerika und noch einmal nach Mexiko, in den Irak, nach Tunesien… Zweitens die mit der Bahn – an- abseits oder der Loreley abgewandt – in alle Länder des deutschen Sprachraums bis in die Schweiz oder nach Österreich.
Und dann gibt es andererseits noch die mit dem Bus.

Gut, der brachte uns einmal nach Frankreich. Sonst allerdings fährt er uns fast ausschließlich durch Nordrhein Westfalen. So oft es geht. Die Häuser kennen wir oft schon seit Jahren. Uns treue Orte, denen wir treu sind. Wir kennen die Fußgängerzonen und das eine Café, in das wir seit Jahren gehen, die eine Stunde bis es Zeit ist für Garderobe und Maske. Wir kennen das schmale, scharf beschnittene Kuchenstück der kurzen Wege, aus einem uns sonst ganz fremden Stadtkosmos geschnitten. Es ist immer das Gleiche und doch immer von neuem überraschend. Genau wie das Publikum.

Osnabrück, die Stadt des Westfälischen Friedens, ist, obschon bereits in Niedersachsen gelegen, einer dieser Orte. Das Theater Osnabrück und das Theater an der Ruhr pflegen eine Theaterpartnerschaft über Austauschgastspiele. Austauschgastspiele waren und sind nicht nur  für die NRW-Theater in den Zeiten knapper werdender Kassen stets ein kreatives Mittel, dem Publikum eine reichere und überraschende Auswahl anzubieten. Zudem sind sie eine schöne Gelegenheit, die eigene Arbeit in einem neuen Kontext frisch zu erfahren. Wir spielen nicht das erste mal in Osnabrück. Das Theater Osnabrück hat auch bereits am Raffelberg gespielt. Die technischen Mannschaften kennen sich und arbeiten gern miteinander. Heute gastieren wir im Emma Theater, dem kleinen Spielort des Theaters Osnabrück, dass im dritten Stock des EMA Gebäudes untergebracht ist.

Die ehemalige Schule aus der Zeit der Jahrhundertwende ist ein besonderer Bau. Die ehemaligen Klassenzimmer sind mit ihrer Höhe an die fünf Meter wahre Säle zu nennen. Das Theater nistet oben in den eigenwilligen Räumen fast wie eine Vogelkolonie an einer Felswand. Eigenwillig klingen Geschichte, Improvisation und Gestaltung zusammen. Die kleine intime Bühne hat Charme.

Ob sie für „Gott“ taugt, ist fraglich. Die freche Komödie von Woody Allen über die Kulturindustrie und ihre nicht nur vom toten Gott sondern auch von allen guten Geistern verlassenen Kulturschaffenden, die dennoch nicht sinnlos als Staubkorn durch die Ewigkeit fliegen wollen, entfaltet sich dann am besten, wenn sie auf einer weiten, nackten und leeren Bühne wie auf einer Eisscholle ausgesetzt stattfindet. Hier, in diesem kleinen Raum, fühlt sie sich ein wenig wie auf eine trashige Sketch – Up – Show reduziert an. Aber sie zu spielen macht ebenso Freude wie es nicht nur den im Publikum auf ihren Auftritt wartenden Kollegen Spaß macht, zuzusehen. Man kann einen Abend tausendmal spielen und tausendmal gesehen haben: gelingt er, wird er immer wieder von neuem überraschen.

Im nächtlichen Bus, schlafend, über einem Buch oder in langen Gesprächen geht es direkt nach der Vorstellung zurück nach Mülheim. Vor dem nächtlichen Fenstern träumt man wie in einem Raumschiff oder einer Taucherglocke. Man weiß ja auch ein paar Stunden lang wo man ist. In NRW. Quasi zuhause.




Rainer Firchov, Rosmarie Brücher

Posted in: Allgemein, Wenn einer eine Reise tut Tagged: Allen, Gott, Osnabrück, unterwegs

Schauspieler in Israel

18. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Wir diskutieren das Engagement unserer Kollegen in Israel und seine Unterstützung durch den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels David Grossmann. Seine Bücher „Diesen Krieg kann keiner gewinnen“, „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ und das Kinderbuch „Zickzackkind“ empfiehlt der Autor dieses Postings mit Begeisterung.

Posted in: in der Diskussion Tagged: Grossmann, Israel

In den Proben: „Die Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler, Regie Simone Thoma

15. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Das Wien der Jahrhundertwende war mehr als die Hauptstadt der heute versunkenen Atlantis Kakanien. Es war der blühende Musentempel der kaiserlichen und königlichen Monarchie, ein Weltort des Denkens, der Musik, des Theaters und der Dichter. Stefan Zweig schildert diese Stadt und die Seinen atemberaubend in seinem Buch „Die Welt von Gestern“. Auch eine Hochburg der Wissenschaften war Wien. Insbesondere war es ein Ort der Medizin.

Unter dem entgotteten Himmel der Städte und dem Eindruck der aufkommenden Industrialisierung hatte sich der Mensch neu zu erfinden. Der Begriff des Individuums trat erst in dieser Zeit in seine heutigen Rechte ein. Der Bürger empfand seine Individuation als Aufgabe, die ihm die Gesellschaft übertragen hatte. Seine Person sollte im Sinne der Gesellschaft beispielhaft sein, „Es“ sollte „Ich werden“, wie Freud es ausgedrückt hatte. Das Ausleben seiner Träume, Affekte, Leidenschaften und Begierden hatte ein scharf gehütetes Geheimnis zu bleiben. Es wurde tabuisiert. Man empfand die Irrationalität als bedrohende, einbrechende Gegenwelt, als das das Ich zerstörende Chaos. Man wurde Individuum, in dem man sich etwas versagte. Der Bürger trug seine Individualität wie eine moralische Maske, hinter der sich das Chaos verbarg.

Das Proletariat wurde als Masse erlebt, die gegen den Bürger stand. Für den Proletarier galten keine Kulturzwänge. Der Mensch in der Masse war nackt. Und die affektive Macht der Masse wurde als Bedrohung von Moral und Kultur empfunden. Karl Marx stellte die Bourgeoisie in ihrer „Charaktermaske“ radikal in Frage, der er jede Individualität absprach. Sicherheit und Unsicherheit wurden elementare Begriffe im kollektiven Erlebnis des Bürgertums. Stefan Zweig schildert die Blüte des Versicherungswesens als Symptom der geistigen Verfassung dieser Zeit. Sich selbst zu bestimmen ist ein langer Prozess, der mühsam und schmerzhaft ist. Sich für sich selbst zu entscheiden, zu sagen, wer man ist, geschieht oftmals gegen den affektiven Wunsch von dieser Selbstbegrenzung erlöst zu werden.

Der Arzt dieser Tage empfand sich als Herr über Leben und Tod und als über diesen Fragen stehend. Mit den Ärzten der NS Zeit fand eine Entwicklung wissenschaftlichen Selbstverständnisses ihr entsetzliches Ende, das seinerzeit kühn in eine radikale Emanzipation aufgebrochen war. Der Arzt sah hinter die Masken, nicht nur hinter die Masken des Individuum, sondern auch hinter die Masken der Moral, ja, selbst hinter die Masken des Bewusstseins. Die Vorstellung von Allmacht gegenüber der Kreatur wurde zum Bestandteil seines Selbstverständnisses. An wehrlosen Patienten wurde mit Hypnose und gar mit Schmerz und Folter geforscht. Der Arzt experimentierte mit Drogen an sich selbst und eroberte sich die Räume hinter der Wahrnehmung der ersten Realität. Sigmund Freud erschloss dem aufgeklärten Denken die Landschaften der Seele. Die Psychoanalyse nahm mit ihm seinen Anfang. Autoren wie Turgenjev oder Tchechov bis hin zu Benn und Céline beschrieben den Menschen neu. Sie alle waren Ärzte. Ärzte wirkten entscheidend am Bild des modernen Menschen mit – wie auch an seiner Zerstörung.

Zwischen Sigmund Freud und seinem Arztkollegen Arthur Schnitzler bestand zeitweise ein lebhafter Austausch. Arthur Schnitzler war wie kein anderen zum Dichter, Chronisten und Porträtisten der Verfassung des Bürgertums seiner Zeit geworden. Er ist der Dichter des Halbbewussten, des Erlebten hinter der Maske, des Tagtraums und der stets gefährdeten brüchigen Verfassung des Ich als provisorisches Bollwerk gegen Traum, Affekt und sexuelle Begierde.

In seiner Traumnovelle beschreibt Schnitzler die Krise des jungen Arztes Fridolin, der seiner sexuellen Versuchung in eine verbotene und lebensgefährliche Gegenwelt folgt. Seine Frau Albertine erlebt im Traum die Auflösung ihrer Ehe in der Vision einer großen und entscheidenden sexuellen Orgie. Für beide endet es glücklich. Sie können der Bedrohung in den Schutz ihrer Zuneigung entfliehen – vorläufig nur, denn sie wissen nun, dass die Bedrohung stets ein Teil ihrer selbst war.

Simone Thoma siedelt in ihrer ersten Inszenierung am Theater an der Ruhr den Stoff in einem Sanatorium, einem Kurhotel an. Der Pathologe Doktor Adler führt die Figuren durch die Handlung wie durch ihr inneres Erleben. Wie in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ ist auch hier nicht sicher, ob die beabsichtigte Erholung nicht Verfall bedeutet und ob die vollkommene Heilung nicht gleichbedeutend mit dem Tod ist.

Zu Arthur Schnitzler finden Sie hier nähere Informationen. Zum Verständnis der Konzeption sind die Männerphantasien von Klaus Theweleit eine wertvolle Anregung. Die Traumnovelle Arthur Schnitzlers lesen Sie hier im Original.

Auf der Seite „die traumnovelle / aus den Proben“ finden Sie eine Galerie mit den schönsten Probenfotos von Peter Kapusta. Links dazu rechts oben oder in der rechten Seitenspalte.

Posted in: Allgemein, Es wird probiert Tagged: Proben, Schnitzler, Simone, Thoma, Traumnovelle

29. Oktober 2010 / „Die Kunst der Komödie“ in Thun / Schweiz

15. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Es ist wunderschön in Thun!

An der Mündung der Aare zum Thuner See genießt man rundum den Blick auf die Bergwelt des Berner Oberlandes. Das Schloss Thun überragt die Stadt. Ein Teil der Altstadt ist zwischen den Armen der Aare auf einer Insel gelegen. Der Ort ist seit der Jungsteinzeit besiedelt. Der Name Thun kommt aus dem dem Keltischen. Dunum ist der befestigte Ort.

Die Herzöge von Zähringen, deren Regierungstätigkeit bis in den Süden Deutschlands, besonders in Südbaden und Freiburg im Breisgau von großer kultureller Bedeutung war, gründeten die Stadt und erbauten Schloß Thun. Im 19. Jahrhundert wird Thun mit der Gründung einer Militärakademie zu einem wichtigen Rüstungszentrum der Schweiz. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts blüht der Fremdenverkehr. Ab 1835 wird ein regelmäßiger Dampfschiffsverkehr auf dem Thuner See eingerichtet.

Die Kunstgesellschaft Thun e. V.

Die Stadt mit ihren nur zweiundvierzigtausend Einwohnern ist kulturell hoch aktiv. Zunächst hat sie sich einen Namen als Stadt der Kleinkunst geschaffen. Jeweils im April jeden Jahres veranstaltet die Gemeinde einen Markt der kleinsten Theaterproduktionen. Im Mai gibt es ein Gauklerfestival. Am 13. September findet der Kleinkunsttag statt. Für das Sprechtheater engagiert sich die Kunstgesellschaft Thun e.V.

Der Verein bietet seinen Mitgliedern neben zwei Opernfahrten nach Biel und Solthurn nicht weniger als neun Theatergastspiele pro Saison an. Die Theatergastspiele finden in der „Aula Schönau“ in Steffisburg statt. Hinzu kommen Autorenlesungen und Vorträge im Kleintheater „Alte Oele“. Ein Programm im Bereich der Bildenden Kunst gehört ebenso dazu wie eine einmalige jährliche Kulturreise. Der Jahresbeitrag eines Erwachsenen beträgt lediglich vierzig Schweizer Franken.

Etwa eine halbe Stunde Fußweg vor der Stadt gelegen, ist die Aula Schönau in Steffisburg Teil eines größeren modernen Schulkomplexes. Der Raum ist trotz seiner professionell engagierten technischen Mannschaft kein professionelles Theater zu nennen. Er bleibt, was er ist: eine Aula.

An dieser Stelle sind nicht nur die Fähigkeiten sondern auch der unermüdliche Einsatz der Techniker und Beleuchter des Theaters an der Ruhr zu preisen. In nun fast dreißigjähriger Erfahrung geschult, sind sie in solchen Fällen routiniert in der Lage, dem etwas theaterfremden Raum nicht nur das Bühnenbild einzupassen, sondern vielmehr vorher erst einmal ein Theater, dass dieses Bühnenbild tragen, präsentieren und ausleuchten kann. Wir reisen mit umfassendem Equipment, einer großen Lichtanlage und in Vorausberechnungen aller möglichen und unmöglichen Widrigkeiten. In kürzester Zeit wird alles möglich gemacht. Auch hier in Steffisburg gelingt die Wandlung: die Aula Schönau wird ein stimmungsvoller Theaterraum.

Eine Einführung zu Autor und Werk in der Aula, zu Eduardo de Filippo, seiner Biographie und seinen Stücken ist Teil des Abends. Der Vortragende hat den Eindruck eines eleganten, lebendigen und kultivierten Publikums. Alle Altersklassen sind vertreten. In vielen Städten ist das heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Das Durchschnittsalter der Theaterbesucher kann hier und dort durchaus um siebzig Jahre liegen. Das Publikum folgt dem Abend vom ersten Moment an mit Begeisterung und feiert ihn beim Applaus frenetisch.

Bei einem anschließenden Empfang im Foyer der Aula wird die freudige Begeisterung deutlich, mit der die Theaterfreunde für Thun Theater ermöglichen. Zu Baguettes und Getränken geladen, plaudern wir noch länger mit etlichen Damen und Herren, die meisten von ihnen in der Kunstgesellschaft Thun engagiert. Es gibt ein qualifiziertes Interesse an Fragen zur Dramaturgie,  zu allen Aspekten der Bühnenkunst und der Theaterproduktion wie auch zu ihren wirtschaftlichen Voraussetzungen. Viele Mitglieder des Vereins haben begonnen, sich in allen Fachfrage des Theaters zu bilden. Eine Gruppe widmete ihre jährliche Reise einem Besuch der Inthega, der Messe des Gastpielverkaufs. Das Gespräch ist anspruchsvoll. Man muss sich etwas anstrengen.

Unterhalb des Spielzeugmuseums ist das Gasthaus Engel zu finden. Die kleinen, verspielt dekorierten Räume öffnen sich einer fröhlichen Gemeinschaft. Das Käsefondue ist köstlich.

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23. Oktober 2010 / „Die Dreigroschenoper“ in Traunreuth

15. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Von München aus in südöstlicher Richtung der alten Salzstraße folgend, gelangt man nach etwa anderthalb Stunden Fahrzeit kurz vor Salzburg in das Chiemgau, eine der lieblichsten und ältesten Kulturlandschaften Bayerns. Den Chiemsee sehen wir nicht. Wir steigen in Traunstein um. Die alte kunstreiche Stadt mit ihrem besonderen architektonischen Gesicht zwischen Ober- und Unterstadt bleibt abseits vom Weg. Sie war die Kindheitsheimat des österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard. Wir reisen weiter nach Traunreuth.

Giftgas, Bessarabien und Russlanddeutsche.

So alt Traunstein und die umliegenden Gemeinden sind, so jung ist Traunreuth. Die Stadt ist aus den Bunkern und Magazinhäusern der Heeresmunitionsanstalt Muna St. Georgen erwachsen. Im zweiten Weltkrieg wurde hier Giftgas abgefüllt. Nach Kriegsende wurde hier eine Siedlung für Flüchtlinge aus den deutschsprachigen Landschaften Osteuropas, speziell aus Bessarabien gegründet; neue Industrien siedelten sich an, 1950 wurde die Gemeinde offiziell gegründet, 1960 wurden ihr die Stadtrechte verliehen. Noch Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre siedeln zahlreiche Russlanddeutsche in Traunreuth.

Das K1.

Als kleine Stadt von etwa zwanzigtausend Einwohnern erfüllte sich Traunreuth mutig den Wunsch nach ihrem eigenen Kulturzentrum, das zugleich zum zentralen Veranstaltungsraum des gesamten Chiemgaus taugen sollte. Anfang der achtziger Jahre entstanden die ersten Pläne. Immer wieder wurden sie aus finanziellen Gründen verworfen. 2007 beschloss der Stadtrat den Bau. 2008 wurde der Grundstein zu dem Bau in kubischer Form mit großem Veranstaltungssaal und Restauration gelegt, der am 15. Januar 2010 eröffnet wurde. Er erhält den Namen K1. Das Theater an der Ruhr gehört zu den Gästen der ersten Spielzeit.

Neben der städtischen Trägerschaft beeindruckt die Liste der Sponsoren. Die Wirtschaft der Stadt identifiziert sich in hohem Maße mit den kulturellen Bedürfnissen ihrer Bürger. Derartigen politischen und wirtschaftlichen Mut zeigen heutzutage vor allem kleine Gemeinden. Der Hansestadt Hamburg wünschte man in diesen Tagen eine vergleichbare Politik und vergleichbaren Bürgersinn.

Das Modell des Kubusbaus als archtektonisch ökonomischte Form für den Bühnenbau beginnt übrigens Schule zu machen. In Luxemburg spielten wir in einem vergleichbaren Bau – mit ähnlichem Namen.

Unserer sehr gut besuchten Vorstellung der Dreigroschenoper wird begeistert applaudiert. Allerdings hatten wir zunächst um die Gunst eines wachsamen, aber reservierten Publikums zu ringen, die spezielle Theatersprache des Theaters an der Ruhr wird auf das erste mal zunächst als fremd empfunden.

Auf die Dörfer.

Untergebracht sind wir in verschiedenen umliegenden Gemeinden, die meisten der Schauspieler in Traunwalchen, heute ein Teil der Gemeinde Traunreuth. Eine Kirche auf Berg. Fast ringsum auch unter dem schweren Wolkenhimmel der Blick auf bereits beschneite Berge. Der Maibaum. Die Schule. Der Gasthof Springer, in dem wir untergebracht sind, ist ein bayrisches Wirtshaus der alten Art. Nahe bei liegt das Wasserschloss Pertenstein aus dem 13. Jahrhundert. Der Komponist Carl Orff ist dem Ort verbunden. Über einer ausgebauten Remise des Schlosses findet sich die Aufschrift „Orff-Festspielhaus in Spe“. Eine Plakette am Eingang des Gasthofs Springer erinnert an ihn. Das Orrfsche Schulwerk wurde in Traunwalchen wohl besonders gepflegt. Das Schulwerk, sein Weihnachtsspiel, Die Kluge… ist das tatsächlich schon in Vergessenheit geraten?





Bayrischer Kulturdrang

Nichts ungewöhnliches wäre es übrigens für eine bayrische Gemeinde, wenn sie tatsächlich ihr Orff-Festspielhaus realisierte. Mit dem Stolz auf die kulturellen Traditionen gibt es in Bayern und besonders im Chiemgau auch einen Stolz auf die das aktuelle Kulturgeschehen. Fast jedes Dorf hat hier seine Theatertruppe. Eine nahe gelegene Gemeinde hat sogar ein eigenes Filmfestival, die Filmtage Waging.

Nachts um gegen vier erwachen einige von uns durch Gewehrschüsse. Eine Hochzeit steht an. Die Schützen des Ortes gehen am frühen Morgen zwischen drei und vier Uhr zunächst zum Haus der Braut und wecken sie durch Salutschüsse. Sie werden mit Weißwürsten und einer ersten Halbe Bier empfangen. Gegen fünf wird dann ebenfalls der Bräutigam geweckt und ein weiteres Frühstück dieser Art wiederholt. So geht es in den Freudentag, an dem die ganze Gemeinde teilnimmt. Vor der Kirche ist ein Treppentribüne aufgebaut – für Erinnerungsphotos, auf denen ein ganzes Dorf Platz hat.

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Wenn einer eine Reise tut…

14. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Ein früherer Kollege im Ensemble war aus Mexiko an das Theater an der Ruhr gekommen. Er erzählte gerne, dass er in damals, als der Bahnverkehr nach Süden vor allem durch das Rheintal führte, etwa hundert und achtunddreissig mal die Loreley aus dem Zugfenster gesehen habe. Was es bedeuten solle, wusste er mit Heinrich Heine ebenfalls nicht. Diese Pointe beendete seine Erzählung. Dem Theatermenschen gilt die Realität auf der Bühne so viel, dass er stets in Gefahr steht, die Wirklichkeit vor dem Fenster als Konkurrenz zu behandeln. Das muss so sein. Tags wird oft in verdunkelten Räumen geprobt.

Wie wird anderswo Theater möglich?

Wir tun mit dem Theater an der Ruhr unsere Reisen hauptsächlich deswegen, weil wir bereits eine Menge zu erzählen haben. Aber auf uns trifft ebenfalls der viel zitierte Umkehrschluss zu. Nach einer Reise haben wir Neues zu erzählen. Wir erleben Wege und Landschaften, Orte und Städte. Mit nicht Wenigen verbindet uns eine so lange und reiche Geschichte, dass wir nach Erlangen, Istanbul, Landsberg am Lech oder auch Teheran heimkehren wie in ein abgeschlossenes Seitenkapitel unseres Theaterlebens mit seinem eigenen, ganz besonderen Lebenslauf.

Wir haben neue Begegnungen. Wir sehen alte Bekannte wieder, die im Laufe der Jahre zu Freunden werden. Wir erzählen, man erzählt uns etwas. Wir freuen uns auf Entdeckung oder Wiederfinden eines Ausblicks, einer Straße, einer nächtlichen Stadt, eines Restaurants oder eines schon einmal bewohnten Hotels. Vor allem aber freuen wir uns auf die Entdeckung oder Wiederfinden eines neuen oder altbekannten Theaters. Ein Theater ist ein Wunder! Wie kommt es hierher? Wie wird es möglich?

Vom Prachtbau aus dem Rokoko zum Parkplatz. Todo la escala social!

Wir wird und vor allem unter welchen Bedingungen wird Theater möglich gemacht? Und von wem? Mit welchen Motiven? An welchen Orten? In einem glanzvollen Raum voller Prunk, Jugendstil oder Belle Epoque, in einem mächtigen oder winzigen Theaterbau, einer kommunalen Mehrzweckhalle, in einer Schulaula oder gar in einer Sporthalle? In Lateinamerika spielten wir auf einem heiligen Berg in den Anden. In Montenegro stellte sich der Spielort zu unserem Entsetzen als Parkplatz heraus.

Wie konnte die Aufführung unter welchen Umständen gelingen? Ob auf großen Auslandsreisen oder unseren Fahrten durch den deutschsprachigen Raum – die Lösungen der sogenannten Provinz sind oft bedeutend kreativer und anregender als der Materialverschleiß der Metropolen. Wir erinnern uns nicht nur der Orte, Landschaften, Hotels, Restaurant und Besonderheiten: Wir erinnern uns der Theater, der Partner, mit denen uns zahllose Geschichten verbinden. Von all dem zu erzählen lohnt in den Zeiten, in denen das Herz der öffentlichen Kultur der ökonomischen Feigheit geopfert wird.

PS: Ein Besuch im Loreley Besucherzentrum lohnt sehr! Ein witziges, kleines und kluges Museum!

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