Verleihung des Ruhrpreises für Kunst und Wissenschaft 2011 an Volker Roos
Am 11. Dezember 2011 wurde der Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft der Stadt Mülheim zusammen mit Uli Hanisch an den Schauspieler Volker Roos verliehen. Folgende Rede würdigte den Preisträger.
Lieber Volker Roos, sehr geehrte Damen und Herren
Man liebt den Schauspieler. Was liebt der Schauspieler? Er liebt es, zu spielen. Spielen ist die Lust, sich als jemand völlig Anderen zu erproben als der, der man ist. Spielend setzt man das Sicherste auf’s Spiel was man hat. Keine Bange, nicht etwa sich selbst, sondern lediglich die Definition, die man sich von sich selbst gemacht hat. Die Definition, an der der demographisch erfasste Bürger seine ganze Existenz befestigt, ist dem Schauspieler ein Spielzeug. Bei vielen Schauspielern wackelt sie auch schon nach ein paar Jahren wie ein bedrohter Zahn. Vielleicht schreiben Schauspieler deswegen so gerne ihre Memoiren. Vielleicht wollen sie damit herausfinden, ob es sie all die Jahre überhaupt gegeben hat. Nur ein winziger Schritt trennt sie von der Erkenntnis, dass es so etwas wie ein Ich eigentlich gar nicht gibt.
An genau dieser Stelle bedroht uns der Schauspieler. Heiner Müller bringt es kurz und gut auf den Punkt: Es sind Schauspieler, sie sind gefährlich! Sie stehlen uns nicht das Hemd von der Leine, sie stehlen uns die Rollen, in die kostümiert wir uns in die Schaufenster unserer gesellschaftlichen Geltung stellen.
Wie das kleine Mädchen im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern bringt der Schauspieler den ganzen Staatsakt zum Platzen. Nicht, weil der Kaiser etwa nackt sei! Der Krönungsmantel paradiert da ganz richtig und real vor uns. Aber es steckt kein Kaiser darin. Es steckt nichts und niemand darin. Das freche Gesicht des Schauspielers taucht unvermutet im Hermelinkragen auf. Es war nie jemand darin gewesen.
Als kleines Kind sieht Volker Roos in einem Zigarettenbilder–Katalog Kostümbilder aus Barock und Renaissance: Reifrock, Strumpfbein, Pluderhose, Frau und Mann: Was ist das? Das sind Theaterkostüme. So etwas will ich auch anhaben!
Im Frankreich Ludwigs des XIV. nannte man das patriotische und gesellschaftsverbindliche Gefühl der Staatsliebe und Königsvergötterung das edle, das zentrale Gefühl, das Sentiment. Aber der Kaiser hat ja gar nichts an! Niemand steckt im Kaisermantel! Dem kleinen Mädchen, vielleicht gar dem siebenjährigen Lieschen Müller, dem Volker Roos stets vielbeschworene Zeugin, hätte man folgerichtig im Ancien Regime das Gegenteil des Sentiments, ein schlimmes Ressentiment vorgeworfen. Positiv aufgefasst ist ein Ressentiment also vielleicht nichts anderes als der mutige Akt einer öffentlichen Entlarvung.
Der Schauspieler verbraucht in seinem Memoirenleben einen ganzen Haufen derartiger Kaiser- und Bürgermäntel. Er macht uns klar, dass unsere Identitäten nicht wir sind, ja, nicht einmal Kleider, es sind nur Rollen, oft nicht einmal niedergeschriebene, nur angewöhnte, aus zahl- und gedankenlosen Wiederholungen des einmal gemachten Fehlers gewoben. Der gute Schauspieler aber gewöhnt sich keine Rolle an. Er löst sie im Moment des Spielens bereits auf. Er zieht die Rolle ganz an sich, ja, in sich hinein. Er verstellt sich nicht. Er verbiegt sich weder in Habitus noch Manier. Nicht An-Gewohnheit ist Spielen, noch weniger kunstfertig illustrierende Maskierung. Sie ist Demaskierung, An-Verwandlung, Auflösung des Fremden in der eigenen Art.
Sprechen wir heute von den entlarvenden Ressentiments des Schauspielers Volker Roos. Der Schauspieler fragt sich auf der Bühne: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Die erste Frage begleitet Volkers Jugend. Schon als Kind fragt er den Vater immer wieder nach dem erst kürzlich verlorenen Krieg. Und der spricht offen zu seinem Sohn. Die Musik vorneweg, hatte er als Militärkapellmeister zugleich mit dem Krieg ganz Europa bereist. Er verbirgt dem Kind nichts. Die Kluft zwischen Befehl und Entscheidung wird zum zentralen Thema ihrer Gespräche. Wäre er, früher geboren, selbst zum Nationalsozialisten geworden? Der junge Volker hält es das zunächst für unmöglich. Aber schon mit achtzehn Jahren ist er sich da nicht mehr so sicher. Was ist das Böse? Wo ist es in ihm selber zu finden? Diese Frage wird ihm zentral. In sich selbst spürt er der historischen Katastrophe nach. Immer wieder spielt er faschistische, bösartige, kalte Figuren. Den Zanko im Kroatischen Faust von Slobodan Snajder zum Beispiel. Er spielt Mitmacher, Mitläufer und Antisemiten. Eine zentrale Arbeit in seinem Schauspielerleben ist der judenhassende Kaufmann Antonio in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig. Die Kälte der Mörder interessiert ihn, das Fehlen menschlicher Eigenschaften, die Leerstellen in den Gefühlen der Täter, die negativen Vexierbilder des faschistischen Charakters. Um dem Grauen zu entkommen, muss Du Dich darin begraben sagt Jean Genet. Der Schauspieler Volker Roos emanzipiert sich von den Schrecken der Vergangenheit, in dem er ihre menschlichen Wurzeln in sich entlarvt und schließlich öffentlich manifestieren kann. Hat er da eine Art Rollenfach gefunden? Der siebenjährige Rubin, Kind seiner Kollegin Christine Sohn, fragt ihn, als er einmal in Uniform und Reiterstiefeln durch das Foyer geht: Volker, spielst Du schon wieder einen Bösewicht?
Gesellschaftlich tradierte Männerrollen zu entlarven wird sein zweites zentrales Interesse. Am Theater an der Ruhr entdeckt er die Frauenrollen für sich. Die Betia in La Mosceta, die Frau aus der U Bahn in Gott. Als Spelunkenjenny wird er eine Ikone des Theaters an der Ruhr. Er befreit er sich ein zweites mal in seine Frauenrollen. Mit dem Geschlechterwechsel entlarvt er das Klischee des Männlichen. In der zweiten Version von la Mosceta spielte Volker Roos einen Mann, der ein Frau spielt. Er ist nur oberflächlich kostümiert, ein Fähnchen und eine Perücke müssen ausreichen. Barfuß geht es Leitern hoch und hinunter. Er erzählt, das sein eigener Vater in der Vorstellung erst nach zehn Minuten bemerkt hatte, dass die Frau dort ja in Wirklichkeit ein Mann und gar sein eigener Sohn sei. In der Rolle der Tamora in Titus Andronicus mündet er in sein frühestes Thema und tut er einen Blick auf die abgewandte Seite des Mondes. Er erforscht den Typus der Winifred Wagner, der Magda Göbbels, der hohen Frau der Nationalsozialisten.
Seinen Text höchst misstrauisch, ja, ressentimental zu befragen, ist ihm ein zentrales kreatives Mittel. Die Sprache der Übersetzung von König Lear, in der er den König spielte, hasste er anfangs. Die Grandiosität, die er leztlich an ihr erlebt hatte, erschloss er sich mit der hohen Energie gleichsam begeisterter Abneigung. So entstand die Figur seines Lear, die, mit sparsamsten schauspielerischen Mitteln gestaltet, fast allein auf der feinsten Durchlichtung eben dieser Sprache basierte.
Dem Schauspieler ist alles Material, was er aktuell in den Tag hinein erlebt. Er zensiert kein noch so unbedeutendes Erlebnis, keinen noch so niedrigen Affekt. Aus der kleinlichsten Aversion kann eine Charakterstudie von tiefer Bösartigkeit erwachsen. Das fast quälende Ressentiment gegen die Spielweise eines inkompatiblen Bühnenpartners wurde zum grundlegenden Gestus des Wagner in Pinocchio / Faust. Das Ressentiment gegen eine ganze Rolle in Woody Allens Stück Gott, die des Sklavenbesitzers, in der er einen schlechten Schauspieler zu spielen hatte, der in einem schlimmeren Stück eine fürchterliche Rolle einfach entsetzlich spielt, geriet ihm zu einem seiner heitersten und spielerischen Erfolge. Ernsthaft erlebte er schöpferischen Schmerz an der Rolle des Danton, von der er mit innerster Sicherheit wußte, dass er einfach nicht Danton und der Danton einfach nicht seine Rolle sei. Alles an der Figur war ihm fremd. Als das Resultat unnachgiebigen Ringens mit einer völlig fremd empfundenen Vorlage geriet ihm eine der zentralen Leistungen seines Schauspielerlebens.
Bei allem Ressentiment und allen seinen vielfältigen Segnungen – ein großes Sentiment hat er doch noch, der Volker Roos. Es ist das große, liebende und auch immer wieder glückliche Gefühl der Gemeinsamkeit mit allen und allem am Theater an der Ruhr Roberto Ciullis, der Gemeinsamkeit mit ihm und mit seiner Lebensbühne ein ganzes Bühnenleben lang. Er findet nicht, dass er einen Preis verdient habe, den nicht jeder seiner Partner auch erhalten sollte. Bestürzt fragte er eine Freundin, warum denn ausgerechnet ihm dies wiederführe. Ach Volker, war da die Antwort, vielleicht sind das nach dreißig Jahren einfach Deine Treuepunkte.
Die Punkte für Treue, gut, die lässt er sich gerne gefallen. Der Vater, in Alzey geboren, benannte seinen Sohn nach dem fidelspielenden Recken Volker von Alzey aus dem Nibelungenlied, der ob seiner Musik, mehr aber noch ob seiner Freundestreue gelobt wird. Volker Roos wollte und will nichts anderes sein, als eben ein Volker von Alzey seines Lebenstheaters, beim Fest und in der Schlacht gleichermaßen, Freund, Spielmann und getreuer Paladin seiner Nibelungen. Sich und anderen den ein oder anderen Hieb, die ein oder andere Blessur nicht ersparen, wenn es unumgänglich ist, versteht er mit Ingeborg Bachmann als ritterliche Tapferkeit vor dem Freund. Das ist die schöne, die große Sentimentalität des ressentimentalen Volker Roos, der er anhängt wie nur die kleinen Mädchen es können, die Lieschen Müller heißen und genau wissen dass der Kaiser keine Kleider anhat und im Kaisermantel nicht die Spur von einem Kaiser zu finden ist.
Herzlichen Glückwunsch, Volker!