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Gastspiel

Reise nach Irak-Kurdistan vom 4. bis zum 16. April 2012

12. Juni 2012 by Rupert Seidl 1 Comment

Den Flughafen in Erbil bevölkern bei unserer Ankunft in den frühen Morgenstunden des 5. April 2012 vor allem heimkehrende Pilger aus Mekka. In weißen Gewändern stehen Gruppen von Männern beieinander, die Frauen haben auf dem spiegelblanken Marmorboden der Ankunftshalle Platz genommen. Alle führen halbtransparente Kanister gefüllt mit Wasser vom Heiligen Brunnen Zem Zem in Mekka mit sich. Neben den Koffern, oft auch auf freier Fläche, stapeln sich Pyramiden dieser Kanister, in oranger und blauer Schrift bedruckt. Manchmal ist in englischer Sprache peace of mind auf ihnen zu lesen. Am Morgen der Rückfahrt zwölf Tage später sehen wir diese Kanister wieder. Viele von ihnen kreisen unabgeholt auf dem Gepäckband des Düsseldorfer Flughafens.

Den Brunnen Zem Zem kenne ich als deutsches Kind der fünfziger Jahre aus den Romanen Karl Mays. Wir aus Deutschland kennen Kurdistan fast ausschließlich von Karl May. Vielleicht sympathisierten wir in den achtziger Jahren auch deshalb so begeistert mit dem Freiheitskampf der Kurden. Die Winnetou-Filme mit Lex Barker und Pierre Briece waren der Ersatz für den unmöglich gewordenen Heimatfilm, vielleicht wurden uns die realen Kurden ein Ersatz für die Indianer im Kino. Der morgendliche Blick über grüne kurdische Berge, Storchenflug und Storchennester auf den Masten der elektrischen Überlandleitung hebt das Herz ganz in diesem Sinne, ich habe es erfahren.

Diese Sympathie wird uns dort zu Lande übrigens real und authentisch vergolten, man dankt sie den Deutschen als engen Freunden, gar Brüdern des kurdischen Volkes. Der etwas bedrückende Gedanke liegt nahe – vielleicht sind wir unsererseits den Kurden eine Art Kino-Alternative zu wirklichen Brüdern und Freunden. Vielleicht hat das positive Bild des Anderen auch auf kurdischer Seite einen Hauch von Karl May, so fremd er den Kurden sonst sein dürfte.

Das Theaterabenteuer aber, das wir in diesen Tagen erlebt haben, war durch und durch real. Wir erfuhren warmherzige Freundschaft, einzigartige Gastlichkeit und eine unvermutet große Begeisterung für unsere Arbeit. Wir selbst waren und sind begeistert. Wir erinnern uns, wir erzählen mit roten Wangen, so dass nun selbst die erlebte Wirklichkeit eine Qualität der Lektüre von Karl May bekommt. Der jahrelangen vorbereitenden Arbeit unseres Kollegen Ferhade Feqi und seinen kurdischen Gesprächspartnern Omer Tuvi, kurdischer Schauspieler aus Berlin, Masud Arif Theaterdirektor der Stadt Dohuk und dem Kulturdezernenten der Stadt Dohuk, Adel Hesen, danken wir eine der schönsten Reisen des Theaters an der Ruhr seit seinem Bestehen. Ihnen allen, auch den hier nicht genannten kurdischen Freunden und Helfern, zuvörderst von ganzem Herzen Dank!

Auf unserer Reise, die uns eine Überfülle von Eindrücken schenkte, haben wir zwei oftmals einander widersprechende Aspekte eines Landes, eines Volkes und einer politischen Situation kennengelernt. In zwei Städten, die wir besuchten, im nördlich gelegenen Dohuk wie in Erbil im Süden. In Dohuk dominieren die um diese Jahreszeit grünen Berge, in Erbil vermeint man Wüstennähe zu spüren. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte.

Irakisch Kurdistan – das scheint für die Kurden eine erst halb erfüllte, aber schon als vollkommen erlebte Utopie, eine Art Freiheit auf Kredit. Das von einstmals von Saddam Hussein geschundene Land – die Wunden sind kaum vernarbt – ist nun eine autonome Region des Irak. Die Untergrundarmee der Peschmerga nimmt heute Polizeiaufgaben war. Ihre Posten sind allgegenwärtig. Sie wirken auf den Fremden übrigens in keiner Weise bedrohlich, die bewaffneten Soldaten sind freundlich, höflich distanziert und in jeder Lage korrekt. Sie garantieren dem Fremden Angstfreiheit und dem Einheimischen geschützte Demokratie auch in einer noch immer und immer wieder brisanten Situation. An den Kontrollposten ist immer wieder das Foto eines prominenten kurdischen Führers in Peschmerga Uniform zu sehen, der lächelnd und mit erhobenen Händen die Kontrolle auf versteckte Waffen über sich ergehen lässt. Ein Schild am Nationaldenkmal des kurdischen Volkes in Dohuk verbietet das Wegwerfen von Tempotaschentüchern, das Ausspucken und Sonnenblumenkernen und das Mitführen von Handfeuerwaffen. Vom Berg Sahua aus betrachten wir die Stadt Dohuk, die der freundliche Frühlingsabend bald in ein Lichtermeer verwandelt. Sie ist seit den Zusammenbruch des Baath-Regimes um ein Drittel größer geworden.Viele Kurden kehren jetzt aus dem Exil zurück – wie uns einige junge Kurden aus Schweden oder Frankreich sagen, ihrer kleinen Kinder wegen: wenn sie jetzt nicht zumindest für einen Teil des Jahres nach Kurdistan zurückkehrten, würden sie niemals mehr lernen können, dort zu leben, Kurden zu sein. Die Wirtschaft boomt, der Wohlstand wächst.

Man grenzt sich selbstbewusst ab. Iraker dürfen die Grenze zu Kurdistan nur überschreiten, wenn ein mitreisender Kurde persönlich für sie bürgt. Denn die Lage bleibt brisant und wird brisanter.

Kurdistan, die autonome Region, das in den Augen seiner Bewohner freie und unabhängige Kurdistan, ist neuerdings aus mehreren Gründen in Fokus der Westmächte und der Globalisierung gerückt. Das Gebirgslands, das nun im Frühling grün ist und den Reisenden gelegentlich fast an die Schweiz erinnern könnte, liegt im Herzen des Orients. Das kurdische Volk steht dem Islamismus mehr als distanziert gegenüber und ist wohl der einzige Teil der irakischen Bevölkerung, der das Resultat des zweiten Golfkrieges wirklich als Befreiung erleben kann. Und Kurdistan hat Öl. Das schafft die Basis für politische Hoffnungen des Westens, die wohl weniger politische als vielmehr wirtschaftliche Hoffnungen sind.

Die Globalisierung kommt zu Besuch nach Kurdistan und bringt Geschenke mit. Viel Geld strömt ins Land. Shopping Malls nach amerikanischem Vorbild schießen aus dem Boden. Vielleicht will sich der Westen dort eine zweite, eine orientalische, eine ölhaltige Schweiz schaffen, eine Schweiz, deren Vorteile sie, erst in zweiter Linie die Einheimischen genießen sollen. Einen Brückenkopf wie die Schweiz, der allerdings nicht schweizerisch neutral sondern im Interesse der USA neutral bleibt. Ein Orient fast gegen die islamische Welt könnte intendiert sein. Das Interesse der Kurden an nationaler Unabhängigkeit lässt sich vor manchen sehr schweren, manövrierunfähigen Karren spannen, den nicht die Kurden in den Graben gefahren haben und den aus dem Dreck zu ziehen für das kurdische Volk auch bei Gelingen seine Gefahren hat.

Der Irak hängt wie ein solcher Karren an dem sich dynamisch entwickelndem Land. Die Zentralregierung in Bagdad dankt der autonomen Region diese Vorteile nicht. Sie hindert das kurdische Volk immer wieder offensiv an der Wahrnehmung seiner wirtschaftlichen und politischen Interessen. Diese Situation ist nicht ungefährlich. Die Kurden trauen dem Frieden nicht. Welchem Frieden denn auch? Das ist ein weiterer realistischer Sinn der zahllosen Militärposten – auch auf den Berggipfeln.

Das viele Geld trifft ein Volk das zum großen Teil ein Agrarvolk ist. Zudem ist es ein Volk, dessen Geschichte von Unterdrückung und Ausbeutung geprägt ist. Dieses Geld trifft zerstörerisch auf gewachsene, funktionierende Strukturen, schafft neue Strukturen, die fragwürdig sind – und läuft an der vitalen Kultur des kurdischen Volkes vorbei.

Kultur ist in Kurdistan ein großen Thema. Musik, Literatur, Film und auch Theater spielten eine große Rolle im Befreiungskampf wie im Exil und spielen sie noch bei der Bildung einer kurdischen Identität, eines Selbstverständnisses der Kurden. Die Kurden wissen viel von Kultur, brauchen sie, fördern sie und leben in ihrer Kultur. Man begeistert sich in Kurdistan für Kultur. Kultur ist in Kurdistan bedeutend populärer als bei uns, so muss man es sagen. Betritt man allerdings zum Beispiel in Erbil eine kurdische Shopping Mall, dann sieht die Kultur auch in Kurdistan plötzlich ganz alt aus. Kultur: das ist dort plötzlich etwas hoffnungslos gestriges.

Dohuk

Kultur wird von Begeisterten gemacht, das Engagement für Kultur vereint in durch alle Schichten. Sie ist eine Sache des generellen bürgerschaftlichen Engagements, ein vitaler Faktor lebendiger Demokratie. Die Begeisterten sind allgegenwärtig. Der Theaterdirektor der Stadt Dohuk ist Hochschulleiter, ebenso Regisseur wie Schauspieler wie auch ein Filmemacher von Bedeutung, Koffer und Scheinwerfer hängt und trägt er auch wie selbstverständlich. Der Kulturdezernent der Stadt Dohuk, Adel Hesen, übrigens einer der bedeutendsten Kulturpolitiker des gesamten Irak, lädt die Gäste in seinen Garten ein. Nicht zum Kaffee, zum Mittagessen oder auf den Abend, sondern für einen ganzen Tag bis in die Nacht, ein Tag, den man am Feuer plaudernd bis in die Nacht verbringt, an dem man sich zum Mittagsschlaf oder auf einen Spaziergang zurückziehen kann, ein Tag an dem der Nachschub von Köstlichkeiten nicht abreißt und der in jeder Hinsicht als etwas Köstliches erlebt wird.

Wanderer, kommst Du nach Dohuk…Es ist einfach eine tolle Unterbringung im Jiyan Hotel! Das kurdische Frühstück kennt eine Spezialität: es gibt zwei Arten von Kajmak, Sahne von Schafsmilch, eine in fester, eine in cremiger Textur. Die, bedeckt von einem Löffel Wabenhonig mit einem Stück Wabe, dazu Fladenbrot… Unvergesslich! Die Freundschaft wird Feiern und Festen bekräftigt. Jeder bekommt ein Geschenk. Roberto Ciulli nimmt man gar die abgetragen schwarzen Schuhe ab, wie man sagt, um sie im Museum von Dohuk auszustellen, und schenkt ihm ein paar hoch eleganter neuer schwarzer Slipper, nach seinem Geschmack den Alten täuschend ähnlich.

Man bietet uns ein wunderbares Ausflugsprogramm. Wir reisen in die atemberaubende Gebirgslandschaft, in die alte Stadt Almedya, uneinnehmbar inmitten grüner Weiden auf einem Hochplateau gelegen – und immer wieder in die kurdische Geschichte. Wir besichtigen eine Festung, in der vor weniger als zwanzig Jahren tausende kurdischer Männer mit Steinen erschlagen wurden, um Munition zu sparen. Dort soll eine Gedächtnisstätte und ein Museum entstehen. Die kurdischen Berge waren nicht immer kahl. Die Bomber Saddam Husseins haben die Wälder abgebrannt. Giftgaseinsätze waren kein Einzelfall. In der wunderschönen Natur wird von Genuss frischen Quellwassers dringend abgeraten. Es ist noch immer Gift im Wasser, es kann noch immer tödlich sein.

Gelebte Kultur prägt das Stadtbild in Dohuk. Murale Malereien sind allgegenwärtig. Die kleinen, liebevoll ausgestatteten Hochschulen für Musik und bildenden Kunst sind mit Mosaiken, Fresken und bildhauerischen Arbeiten der Studenten geziert.. Die städtische Galerie zeigt eine überraschend moderne und vielseitige Ausstellungen ortsansässiger Künstler. Bauten im öffentlichen Raum werden umdefiniert. Das Polizeipräsidium Saddam Husseins ist heute Sitz der Universität für Geisteswissenschaften.

Dem Theater, in dem wir spielen, geht es allerdings etwas anders. Der Bau ist ebenfalls aus der Zeit Saddam Husseins und wird kaum in Stand gehalten. Die technische Situation des Theaters ist desolat. Es fehlt an allem. Das, was da ist, ist größtenteils kaputt. Man verdient am Theater selbst für kurdische Verhältnisse kaum etwas. Mancher, der dort angestellt ist, weiß, kann und will nichts mehr. Da der Bühnenboden schwarz sein muss, wird er mit bitumenhaltiger Farbe gestrichen, die nicht aushärtet. Auf der Probe kleben die Schuhe der Schauspieler fest.

Wir sind nur mit Kostüm und Maske gereist, der Transport der Dekoration wäre viel zu teuer gewesen. Nun improvisieren wir aus dem Vorhandenen. Unsere Vorstellungen sind ästhetisch von materiellen Grundlagen weitgehend emanzipiert. Die Begeisterung auch Außenstehender springt in die Bresche und macht viel möglich. Der Intendant greift zum Hammer. Sein Büro wird die Herrengarderobe. Die Schauspielschüler kochen die köstlichsten Imbisse und Zwischenmahlzeiten. Die kleinen Kohlrouladen mit Reis und Lammfleisch! Einfach köstlich! Wer fahren kann, fährt wen auch oder was auch immer wohin auch immer. Meistens tut das Necirvan Etrushi, ein feiner junger Mann, stets comme il faut in Anzug und Krawatte, der uns in den folgenden Tagen noch sehr ans Herz gewachsen ist. Und als sich herausstellt das nur eine Hälfe des Kaspar-Würfels angekommen ist – statt der anderen Würfelhälfte wird ein funktionstüchtiger neuer Rollstuhl ausgeladen, den wer wo auf der Welt nun schmerzlichst vermissen mag, vielleicht angesichts einer vollkommen nutzlosen bunten Würfelhälfte von etwa einem Meter Höhe, die nicht einmal kleine Räder hat! – wird blitzartig ein vollkommen neuer Würfel gebaut.

Man darf in Kurdistan umsonst ins Theater gehen. Man kommt auch hin, oft in hellen Scharen. Rechtzeitig, später, man geht auch oft früher. Man sieht die Vorstellung, ganz, zur Hälfte, für ein Stündchen. Das Publikum umfasst alle Altersklassen, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen – vor allem aber Männer. In einem Publikum von mehreren hundert Menschen sind kaum zehn Frauen zu finden. Auch das Straßenbild der kurdischen Städte wird von Männern dominiert.

Zu Seminar und Diskussion mit Roberto Ciulli in der Universität für Human- und Geisteswissenschaften erscheinen Studenten beiderlei Geschlechtes in großer Zahl. Nach einer geplanten Stunde im Vortragssaal wird auf eine weitere Stunde im Garten verlängert. Das intensive Gespräch ist auch dann nicht mehr als gerade begonnen.

Wie unsere Vorstellungen aufgenommen werden! In Deutschland gelten sie als schwierige Aufführungen. Zudem ist die Dekoration nur improvisiert, die Sprache nur aus der Powerpoint Übertitelung verständlich – aber hier sind sogar die Jugendlichen von dem Pirandello-Abend KAOS begeistert, ganz zu schweigen von Peter Handkes „Kaspar“ oder „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Und dann gibt es eine ganz besondere Sitte: Diejenigen, denen es gefallen hat, bleiben nach dem kurzen Applaus im Raum und bilden eine lange Reihe, die Schauspieler nehmen an der Rampe Aufstellung, die Zuschauer kommen nun auf die Bühne und jeder gibt jedem Schauspieler persönlich die Hand, um sich zu bedanken. Wir haben jeden Abend jeder über hundert Hände geschüttelt. Wer als Schauspieler seine Verantwortung nicht zu spüren vermeint – hier kann er’s lernen, Gesicht für Gesicht, Hand für Hand, Leben für Leben.

Erbil.

Erbil ist ein besonderer Ort. Die Zitadelle über der Stadt ist auf einem Felsplateau gelegen, sie ist der wohl am längsten durchgehend besiedelte Ort der Welt. Seit siebentausend Jahren leben Menschen auf der Zitadelle von Erbil. Wir spazieren immer wieder durch die Mauerlandschaften auf dem Felsen. Die Lichtstimmungen auf Lehmziegeln, in den Höfen der renovierten mittelalterlichen Häuser prägen sich tief ein. Der Ort ist von großer Magie.Seine archäologische Sicherung und Erschließung ist ein Weltprojekt. Viele Europäische Staaten und die UNESCO sind vor Ort. Am Fuß des Berges ein ist ein wunderschöner kleiner, aber urbaner Platz mit einer Brunnenlandschaft und nachts erleuchteten Fontänen. Unvergesslich sind die Wasserpfeife zum Tee, das Farbenspiel der Fontänen und die nächtlichen Flaneure an manchem schönen Abend. Besonders der Tabak mit Orangenaroma hat es mir angetan, der kleine Uhrturm und der Blick auf die erleuchtete Zitadelle und das Denkmal des Weisen aus Erbil, der im Mittelalter die erste Geschichte von Erbil schrieb – in mehreren Bänden.

Direkt hinter dem Platz beginnen die Shopping Malls. Dann folgen die Ausfallstraßen, die neuen Hochhäuser und Hotels. Palmen wurden auf den Mittelstreifen gepflanzt, ein teurer Import aus dem Süden des Irak. Prachtvoll, man muss nicht aufs Geld sehen. Es boomt an allen Ecken und Kanten, oft boomt es auch nicht fertig und bleibt als Betonkulisse stehen, als ein verjährendes Zukunftsversprechen. Eine Art Potemkinscher Aufschwung scheint es, der da um sich greift, man spürt es mit Unbehagen. Das kleine Teehaus der Literaten und Künstler am Fuß der Zitadelle – ein Platz von Kultur, ein Platz mit Geschichte, kleinen und großen Bildern, Fotos von Helden, Dichtern und Sängerinnen,Veranstaltungshinweisen und sogar einer Leihbücherei für das Publikum – wirkt angesichts des sonst grassierenden neuen Prosperität bereits merkwürdig museal, wie aus einer anderen Zeit übriggeblieben, obwohl es unstreitig lebendiger ist als die gegenüberliegende Fassaden-Mall, in deren Torbögen die Kleinhändler mit Fussballtrikots und allerlei Elektronik nisten wie die Schwalben in einer Ruine.

Hier scheint das schöne Klima von Dohuk zunächst teilweise in sein Gegenteil um. Unsere Helfer vor Ort retten mit bravoureusem Einsatz immer wieder die Lage. Sehr zu danken ist hier Kirmanc Bedel, der verhandelte, übersetzte, telefonierte, Fragen beantwortete, um Details kämpfte, uns einzeln oder in kleinen Gruppen durch die Stadt führte – und meistens mehrere Dinge dieser Art gleichzeitig tun konnte, ohne ein einziges mal auch nur unruhig zu wirken. So gelingt auf den zweiten Blick doch noch alles, wie zum Beispiel die Unterbringung in dem phantasievoll ausgestatteten Hotel Tchartchira. Seine Empfangshalle ist eine Symphonie in Glas, Kristall und Farben. Und wie gut seine Küche war! Wie übrigens fast überall in Kurdistan.

Nicht nur unsere Gastspiel, das Stattfinden von Theateraufführungen überhaupt scheint ein umstrittenes Politikum zu sein. Die Lage des Theaters, dieses speziellen Baues, ist ähnlich wie in Dohuk. Hier ist nichts und funktioniert nichts. Leiharbeiter sind einbestellt, die nichts über Theater wissen und teilweise zunächst auch weiter nichts von Theater wissen wollen. Das hatte sich dann übrigens schnell geändert, Begeisterung greift um sich und jeder will jedem helfen. Die Vorstellungen gelingen, das Publikum erscheint trotz spärlicher Werbung zahlreich und die Schlangen der Hände schüttelnden Zuschauer sind lang. Ein angeregtes Gespräch mit dem Leiter des Goethe Institutes, Herrn Heinrich Sobotka, entsteht. An dieser Stelle sei auch ihm herzlich gedankt.

Die Wachsamkeit ist hier bedeutend größer als in Dohuk, man ist dem Konflikt näher gerückt. Eine bewaffnete Patrouille kontrolliert jeden Winkel des Hauses vor Vorstellungsbeginn. Auch hier gilt wieder: wir fühlen uns nicht gestört von der Kontrolle, sie gibt uns ein Gefühl der Sicherheit, zu der auch die durchwegs freundliche, oft gar herzliche Offenheit der Soldaten und Polizisten wesentlich beiträgt.

Wieder sind kaum Frauen im Publikum. Als Roberto Ciulli einmal einen zivilen Gesprächspartner danach fragt, warum denn kaum Frauen in die Vorstellungen kämen, erhält er zur Antwort: „Mischen Sie sich nicht in unsere Angelegenheiten.“ Er insistiert und wird endgültig beschieden mit dem Satz: „Stellen Sie diese Frage nicht.“

Unvergesslich bleibt mir ein seitlicher Hinterhof des Theaterbaus. Hier verrotten brauchbare und unbrauchbare Teile früherer Dekorationen wohl schon mehrere Jahre lang. Dieses Theater kann sich keinen Fundus leisten, nur eine Deponie, eine Deponie direkt neben einer Mall allerdings, die sinnigerweise Rhein-Mall heißt. Ein deutsches Muster? Durchaus denkbar. Arme Kultur. Nicht nur in Kurdistan.

„Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Apfelbäumchen habe ich gesehen in Kurdistan, auch blühende Mandel und Nektarinenbäumchen. Ob den Kurden Ihre Welt nun endlich aufgehen darf? Oder ob sie in Gefahr ist, unterzugehen? Oder gar beides zugleich? Stellen Sie diese Frage nicht, Rupert Seidl. Mischen Sie sich nicht in ihre Angelegenheiten. Danken Sie ihnen und halten sie ihnen alle Daumen. Aber danken Sie zum Abschluss auch den Fahrern der Busse und danken Sie dem kleinen gelben Bus, dem Yellow Bus, der im ersten Gang die Bergtäler abwärts fuhr, um die Bremsen zu schonen, mit dem wir unvergessliche Fahrten, in dem wir unvergessliche Erlebnisse feiern durften. Danke Kurdistan! Danke den Kurden und der Kurdischen Wirklichkeit so viel realer und so weit jenseits von Karl May!












































 

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„Was ihr nicht begreift, ist die Mechanik.“

17. Mai 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Bertolt Brechts Dreigroschenoper am 11. und 12. März 2011 in Rüsselsheim

Das Theater Rüsselsheim steht am Treff, ein Rund von Neubauten um einen Platz, der mitgestalteter Teil der geschlossen konzipierten Anlage ist. Die Städtebauer haben urbanes Lebens vorgesehen. Aber dazu liegt der gesamte Treff wohl etwas zu sehr seit ab, obwohl sich auch Volkshochschule und Bücherei im selben Ensemble befinden. An diesem Wochenendabend geht nur manchmal jemand über diesen Platz.

Der Empfang des Hauses ist herzlich und großzügig. Bühne und Zuschauerraum sind riesig. Im lichtdurchfluteten Foyer steht neben den Arbeiten eines Kunstwettbewerbs hier und da große Kunst, besondere Stücke, gar ein kleiner Rodin. Rüsselsheim ist die Stadt der Opelwerke.

Wer finanziert die Theater wirklich? Sieht man den Theatern ihre Finanzierung an? Was entstehen für Theater aus welcher Finanzierung? Was ist das überhaupt, Finanzierung? Ernst Josef Aufricht war Theaterproduzent im Berlin der Weimarer Republik. Wir verdanken ihm eines der schönsten Bücher über das deutsche Theater des zwanzigsten Jahrhunderts, seine Erinnerungen Erzähle, dass Du Dein Recht erweist. Aufricht war ebenfalls der Produzent der Uraufführung der Dreigroschenoper. Bei Probenbeginn hatte er kein Stück. Eigentlich hatte er nur Brechts Idee. Und ein paar Zettel von seiner Hand, Notizen über Stoff und Absicht der Arbeit. Theaterfinanzierung war im Berlin der Weimarer Republik Geldanlage. Theater waren oftmals rentable Unternehmen. Der Geldgeber, mit dem Aufricht zum ersten mal über die Idee der Dreigroschenoper sprach, kam aus dem Bankfach. Sehen sie, sagte er Aufricht, hier habe ich zwanzigtausend Reichsmark. Ich könnte sie Ihnen jetzt geben. Aber ich habe eine wesentlich bessere Idee: wir gehen jetzt gemeinsam auf die Toilette, werfen die Scheine in den Abort und spülen sie einfach herunter. Das hat den selben Effekt. Und Sie haben sich zumindest sehr viel Arbeit erspart.

Der Geldgeber hatte sich gründlich getäuscht. Die Dreigroschenoper wurde der größte wirtschaftliche Erfolg im Theater der Weimarer Republik. Es war nicht nur der Erfolg Bertolt Brechts, es war auch der große Erfolg der Songs von Kurt Weill. Es war ein Erfolg aller Beteiligten, ein Erfolg selbst der Besucher auf den Proben. Karl Kraus sah eine Probe des Eifersuchtsduetts und schenkte dem Autor begeistert weitere Strophen, der Song war ihm viel zu kurz. Es gab kein Stück. Alles entstand auf den Proben. Kräche und Improvisationen lösten einander ab. Bis kurz vor der Premiere war unklar, ob es überhaupt eine Premiere geben könne. Und dann hab sich dennoch der Vorhang zu einem begeisterten, zu einem rauschenden Theaterfest.

Mit dem Ende des ersten Weltkrieges waren alle großen und ewigen Ideale der Deutschen als Schwindel entlarvt. Ehre, Treue, Gott und Vaterland, das Mutterherz und die Heimatliebe, Männerfreundschaft und holde Treue der unschuldigen Mädchen, all das deutsche Wesen an dem die Welt hätte genesen sollen, moderte in den flandrischen Schützengräben.

Brecht stellte sich mit seinem neuen Stoff drei Fragen, die später seine Theatertheorie entscheidend prägen sollten. Ist es möglich, eine Theatergeschichte zu erzählen, in der Handlung und Konflikte ausschließlich von den zwei Motivationen angetrieben werden, die das große Sterben der Ideale überlebt hatten um nun umso machtvoll sichtbarer hervorzutreten; von der Gier nach Geld und der Gier nach Sexualität? Ist es fernerhin möglich, mit einer Geschichte zu interessieren, die nicht spannend sondern vorhersehbar sein will? Eine Geschichte, bei der man es eigentlich gleich gesagt haben kann, eine Geschichte, bei der man sich nunmehr in aller Ruhe auf die näheren Umstände des Eintritts des Vorhergesehenen konzentriere?

Die dritte seiner Fragen war die Frage, die Brecht hatte zum Marxisten werden lassen. An ihrer Aktualität hat sich bis heute nichts geändert. Über Sex wissen wir etwas, wenn wir nur ehrlich genug sind, hin und in uns hinein zu sehen. Aber was wissen wir vom Geld, seinen Wegen, von den Kämpfen, die um das Geld geführt werden und von den Waffen dieser Kriege? Wenig. Nichts. Könnten wir sagen, was Geld wirklich ist? Nein. Können wir andererseits in einer Demokratie verantwortlich handeln, wenn wir der Wirtschaftsteil der Zeitung mit schlechtem Gewissen überschlagen müssen?

Fundamentalismus kann auch als das Resultat ökonomischen Unwissens gesehen werden.

Brecht sah mit dem Marxismus die Möglichkeit, durch Revolution wie auch ökonomische Alphabetisierung eine verantwortlichere und emanzipiertere Gesellschaft zu realisieren. Aber hat das stattgefunden? Gelang der Versuch nach den Revolutionen? Bislang nicht. In Zeiten der Globalisierung wird deutlich, das Demokratie vielleicht nur noch der Handlanger der Macht des Geldes sein kann, dessen Zirkulation sich längst aus den Verantwortlichkeiten Einzelner in einen mechanischen Ablauf verselbständigt hat. Fraglich, ob man in ihn noch eingreifen kann. So vorbereitet wie wir es sind jedoch keinesfalls. Hat immer noch keine ökonomische Alphabetisierung der Gesellschaft stattgefunden? Warum nicht? Oder wird in absehbarer Zeit etwas derartiges stattfinden? Jede Aufführung der Dreigroschenoper stellt diese Frage.

Roberto Ciulli geht mit seinem Konzept für die Inszenierung in die italienischen Kinos seiner Kindheit, dorthin, wo Illusion zur Ware und Utopie zum Kosumgut wurde.

In nicht nur den italienischen Kinos der dreißiger Jahre gab es die Pausen, in denen die Filmrollen gewechselt wurden. Ein halbrunder Steg, die sogenannte Passarella, die vordem das Klavier des Stummfilmpianisten umschlossen hatte, wurde in diesen Minuten Schauplatz eines besonderen Programms. Varietékünstler traten auf, die nicht nur ihre besten, sondern längst auch ihre weniger guten Tage gesehen hatten. Siebzigjährige Soubretten, Tenöre, die ihre Stimme verloren hatten oder Jongleure, die ihre Teller fallen ließen wurden dem johlenden Publikum gleichsam in der Manege zum Fraß vorgeworfen.

In Roberto Ciullis Inszenierung wird solch eine Passarella vor einer leeren Leinwand zum Schauplatz des Brechtschen Weltentwurfes um Sex und Geld. Die Oper, die so prächtig sein sollte, wie nur Bettler sie erträumen und zugleich so billig, das nur Bettler sie bezahlen können, wird von Künstlern gespielt und dargebracht,die unstreitig bald ebenfalls betteln werden. Trübe, aber aktuelle Aussichten für die Schauspieler in den Zeiten der Abwicklung öffentlicher Kultur!

Aber die Dreigroschenoper wird in Rüsselsheim vor allem als Oper gesehen. Es ist nicht genau auszumachen, ob das Publikum für das Theater zu begeistern ist oder ob es um seiner Grimmschen Lieblingsmärchen vom Haifisch oder der sexuellen Hörigkeit wegen das dazugehörige Spiel der Darsteller eher ergeben in Kauf nimmt. Der Autor dieser Zeilen, Tiger Brown der Aufführung, hat in Rüsselsheim einer kurzweiligen und äußerst fundierten Einführung in die musikalische Geschichte und Bedeutung des Werkes beigewohnt, bevor er dann auf der Bühne als Tiger gebrüllt, aber vielleicht nicht einer solchen Einführung entsprechend auch gesungen hatte. Im nächtlichen Hotel räsonniert er nach der Vorstellung für sich über der Frage, ob sich das kulturbeflissene Publikum unserer Demokratie je für die so bitter nötige ökonomische Alphabetisierung wird begeistern können. Die Künstler selbst jedenfalls sind auf diesem Gebiete ihrem Publikum weitgehend ähnlich. Werte hat jeder. Wissen nicht. Und Werte sind in unseren Tagen nach der Abwicklung des Sozialismus und der gesellschaftlichen Abkehr von jeglichem Interesse an Utopien oder gar dem Brechtschen Marxismus gründlich aus der Mode gekommen. Die Stadt Rüsselsheim, Standort der Opelwerke, weist dem Besucher am Wochenende eine dörfliche und fast vollkommen leere Innenstadt. Es wird interessant, am Nachmittag vor der Vorstellung etwas zu essen zu finden. Alles ist geschlossen. Noch ein paar internationale Vielwarenläden verstauen. Heimatlose um ein Wettbüro, das aussieht wie eine Zollbehörde. Nicht mal ein Döner auf die schnelle. Als der Mut bereits sinken will, stößt er schließlich und unvermutet auf den Panda-Imbiss, Sushi und Wok. Hier wird mit wenig Deutsch und beredeten Gesten der ganzen Welt zu essen serviert. Afrikaner, Türken, Araber und Asiaten, Deutsche im Anzug, aber auch solche mit selbstgestrickten Pullovern, Autonome, Mädchen im Kopftuch, Kinder und Greise lassen sich riesige Portionen gebratener Nudeln, schmackhafte chinesische und thailändische Karte und ein fabelhaft frisches und großzügig ausgestattetes Sushi schmecken. Die Gespräche werden lebhaft und in den verschiedensten Sprachen geführt. Vielleicht hat Globalisierung so doch noch ihre positiven Aspekte. Vielleicht beginnt an solchen Orten irgendwann ein neuer Ansatz des Fragens und des Wissens, vielleicht entstehen mit den Facebook- und Twitter-Revolutionen neue Diskussionen, vielleicht beginnt die ökonomische Alphabetisierung unser Gesellschaft an ebenso unvermuteter Stelle. Wenn das Theater und sein Publikum nicht sehr gut aufeinander achten, ist es sogar sehr wahrscheinlich, das der Impuls nicht vom Theater ausgehen wird. Und das ist eigentlich schade.

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