„Was ihr nicht begreift, ist die Mechanik.“
Bertolt Brechts Dreigroschenoper am 11. und 12. März 2011 in Rüsselsheim
Das Theater Rüsselsheim steht am Treff, ein Rund von Neubauten um einen Platz, der mitgestalteter Teil der geschlossen konzipierten Anlage ist. Die Städtebauer haben urbanes Lebens vorgesehen. Aber dazu liegt der gesamte Treff wohl etwas zu sehr seit ab, obwohl sich auch Volkshochschule und Bücherei im selben Ensemble befinden. An diesem Wochenendabend geht nur manchmal jemand über diesen Platz.
Der Empfang des Hauses ist herzlich und großzügig. Bühne und Zuschauerraum sind riesig. Im lichtdurchfluteten Foyer steht neben den Arbeiten eines Kunstwettbewerbs hier und da große Kunst, besondere Stücke, gar ein kleiner Rodin. Rüsselsheim ist die Stadt der Opelwerke.
Wer finanziert die Theater wirklich? Sieht man den Theatern ihre Finanzierung an? Was entstehen für Theater aus welcher Finanzierung? Was ist das überhaupt, Finanzierung? Ernst Josef Aufricht war Theaterproduzent im Berlin der Weimarer Republik. Wir verdanken ihm eines der schönsten Bücher über das deutsche Theater des zwanzigsten Jahrhunderts, seine Erinnerungen Erzähle, dass Du Dein Recht erweist. Aufricht war ebenfalls der Produzent der Uraufführung der Dreigroschenoper. Bei Probenbeginn hatte er kein Stück. Eigentlich hatte er nur Brechts Idee. Und ein paar Zettel von seiner Hand, Notizen über Stoff und Absicht der Arbeit. Theaterfinanzierung war im Berlin der Weimarer Republik Geldanlage. Theater waren oftmals rentable Unternehmen. Der Geldgeber, mit dem Aufricht zum ersten mal über die Idee der Dreigroschenoper sprach, kam aus dem Bankfach. Sehen sie, sagte er Aufricht, hier habe ich zwanzigtausend Reichsmark. Ich könnte sie Ihnen jetzt geben. Aber ich habe eine wesentlich bessere Idee: wir gehen jetzt gemeinsam auf die Toilette, werfen die Scheine in den Abort und spülen sie einfach herunter. Das hat den selben Effekt. Und Sie haben sich zumindest sehr viel Arbeit erspart.
Der Geldgeber hatte sich gründlich getäuscht. Die Dreigroschenoper wurde der größte wirtschaftliche Erfolg im Theater der Weimarer Republik. Es war nicht nur der Erfolg Bertolt Brechts, es war auch der große Erfolg der Songs von Kurt Weill. Es war ein Erfolg aller Beteiligten, ein Erfolg selbst der Besucher auf den Proben. Karl Kraus sah eine Probe des Eifersuchtsduetts und schenkte dem Autor begeistert weitere Strophen, der Song war ihm viel zu kurz. Es gab kein Stück. Alles entstand auf den Proben. Kräche und Improvisationen lösten einander ab. Bis kurz vor der Premiere war unklar, ob es überhaupt eine Premiere geben könne. Und dann hab sich dennoch der Vorhang zu einem begeisterten, zu einem rauschenden Theaterfest.
Mit dem Ende des ersten Weltkrieges waren alle großen und ewigen Ideale der Deutschen als Schwindel entlarvt. Ehre, Treue, Gott und Vaterland, das Mutterherz und die Heimatliebe, Männerfreundschaft und holde Treue der unschuldigen Mädchen, all das deutsche Wesen an dem die Welt hätte genesen sollen, moderte in den flandrischen Schützengräben.
Brecht stellte sich mit seinem neuen Stoff drei Fragen, die später seine Theatertheorie entscheidend prägen sollten. Ist es möglich, eine Theatergeschichte zu erzählen, in der Handlung und Konflikte ausschließlich von den zwei Motivationen angetrieben werden, die das große Sterben der Ideale überlebt hatten um nun umso machtvoll sichtbarer hervorzutreten; von der Gier nach Geld und der Gier nach Sexualität? Ist es fernerhin möglich, mit einer Geschichte zu interessieren, die nicht spannend sondern vorhersehbar sein will? Eine Geschichte, bei der man es eigentlich gleich gesagt haben kann, eine Geschichte, bei der man sich nunmehr in aller Ruhe auf die näheren Umstände des Eintritts des Vorhergesehenen konzentriere?
Die dritte seiner Fragen war die Frage, die Brecht hatte zum Marxisten werden lassen. An ihrer Aktualität hat sich bis heute nichts geändert. Über Sex wissen wir etwas, wenn wir nur ehrlich genug sind, hin und in uns hinein zu sehen. Aber was wissen wir vom Geld, seinen Wegen, von den Kämpfen, die um das Geld geführt werden und von den Waffen dieser Kriege? Wenig. Nichts. Könnten wir sagen, was Geld wirklich ist? Nein. Können wir andererseits in einer Demokratie verantwortlich handeln, wenn wir der Wirtschaftsteil der Zeitung mit schlechtem Gewissen überschlagen müssen?
Fundamentalismus kann auch als das Resultat ökonomischen Unwissens gesehen werden.
Brecht sah mit dem Marxismus die Möglichkeit, durch Revolution wie auch ökonomische Alphabetisierung eine verantwortlichere und emanzipiertere Gesellschaft zu realisieren. Aber hat das stattgefunden? Gelang der Versuch nach den Revolutionen? Bislang nicht. In Zeiten der Globalisierung wird deutlich, das Demokratie vielleicht nur noch der Handlanger der Macht des Geldes sein kann, dessen Zirkulation sich längst aus den Verantwortlichkeiten Einzelner in einen mechanischen Ablauf verselbständigt hat. Fraglich, ob man in ihn noch eingreifen kann. So vorbereitet wie wir es sind jedoch keinesfalls. Hat immer noch keine ökonomische Alphabetisierung der Gesellschaft stattgefunden? Warum nicht? Oder wird in absehbarer Zeit etwas derartiges stattfinden? Jede Aufführung der Dreigroschenoper stellt diese Frage.
Roberto Ciulli geht mit seinem Konzept für die Inszenierung in die italienischen Kinos seiner Kindheit, dorthin, wo Illusion zur Ware und Utopie zum Kosumgut wurde.
In nicht nur den italienischen Kinos der dreißiger Jahre gab es die Pausen, in denen die Filmrollen gewechselt wurden. Ein halbrunder Steg, die sogenannte Passarella, die vordem das Klavier des Stummfilmpianisten umschlossen hatte, wurde in diesen Minuten Schauplatz eines besonderen Programms. Varietékünstler traten auf, die nicht nur ihre besten, sondern längst auch ihre weniger guten Tage gesehen hatten. Siebzigjährige Soubretten, Tenöre, die ihre Stimme verloren hatten oder Jongleure, die ihre Teller fallen ließen wurden dem johlenden Publikum gleichsam in der Manege zum Fraß vorgeworfen.
In Roberto Ciullis Inszenierung wird solch eine Passarella vor einer leeren Leinwand zum Schauplatz des Brechtschen Weltentwurfes um Sex und Geld. Die Oper, die so prächtig sein sollte, wie nur Bettler sie erträumen und zugleich so billig, das nur Bettler sie bezahlen können, wird von Künstlern gespielt und dargebracht,die unstreitig bald ebenfalls betteln werden. Trübe, aber aktuelle Aussichten für die Schauspieler in den Zeiten der Abwicklung öffentlicher Kultur!
Aber die Dreigroschenoper wird in Rüsselsheim vor allem als Oper gesehen. Es ist nicht genau auszumachen, ob das Publikum für das Theater zu begeistern ist oder ob es um seiner Grimmschen Lieblingsmärchen vom Haifisch oder der sexuellen Hörigkeit wegen das dazugehörige Spiel der Darsteller eher ergeben in Kauf nimmt. Der Autor dieser Zeilen, Tiger Brown der Aufführung, hat in Rüsselsheim einer kurzweiligen und äußerst fundierten Einführung in die musikalische Geschichte und Bedeutung des Werkes beigewohnt, bevor er dann auf der Bühne als Tiger gebrüllt, aber vielleicht nicht einer solchen Einführung entsprechend auch gesungen hatte. Im nächtlichen Hotel räsonniert er nach der Vorstellung für sich über der Frage, ob sich das kulturbeflissene Publikum unserer Demokratie je für die so bitter nötige ökonomische Alphabetisierung wird begeistern können. Die Künstler selbst jedenfalls sind auf diesem Gebiete ihrem Publikum weitgehend ähnlich. Werte hat jeder. Wissen nicht. Und Werte sind in unseren Tagen nach der Abwicklung des Sozialismus und der gesellschaftlichen Abkehr von jeglichem Interesse an Utopien oder gar dem Brechtschen Marxismus gründlich aus der Mode gekommen. Die Stadt Rüsselsheim, Standort der Opelwerke, weist dem Besucher am Wochenende eine dörfliche und fast vollkommen leere Innenstadt. Es wird interessant, am Nachmittag vor der Vorstellung etwas zu essen zu finden. Alles ist geschlossen. Noch ein paar internationale Vielwarenläden verstauen. Heimatlose um ein Wettbüro, das aussieht wie eine Zollbehörde. Nicht mal ein Döner auf die schnelle. Als der Mut bereits sinken will, stößt er schließlich und unvermutet auf den Panda-Imbiss, Sushi und Wok. Hier wird mit wenig Deutsch und beredeten Gesten der ganzen Welt zu essen serviert. Afrikaner, Türken, Araber und Asiaten, Deutsche im Anzug, aber auch solche mit selbstgestrickten Pullovern, Autonome, Mädchen im Kopftuch, Kinder und Greise lassen sich riesige Portionen gebratener Nudeln, schmackhafte chinesische und thailändische Karte und ein fabelhaft frisches und großzügig ausgestattetes Sushi schmecken. Die Gespräche werden lebhaft und in den verschiedensten Sprachen geführt. Vielleicht hat Globalisierung so doch noch ihre positiven Aspekte. Vielleicht beginnt an solchen Orten irgendwann ein neuer Ansatz des Fragens und des Wissens, vielleicht entstehen mit den Facebook- und Twitter-Revolutionen neue Diskussionen, vielleicht beginnt die ökonomische Alphabetisierung unser Gesellschaft an ebenso unvermuteter Stelle. Wenn das Theater und sein Publikum nicht sehr gut aufeinander achten, ist es sogar sehr wahrscheinlich, das der Impuls nicht vom Theater ausgehen wird. Und das ist eigentlich schade.