In den Proben: „Die Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler, Regie Simone Thoma
Das Wien der Jahrhundertwende war mehr als die Hauptstadt der heute versunkenen Atlantis Kakanien. Es war der blühende Musentempel der kaiserlichen und königlichen Monarchie, ein Weltort des Denkens, der Musik, des Theaters und der Dichter. Stefan Zweig schildert diese Stadt und die Seinen atemberaubend in seinem Buch „Die Welt von Gestern“. Auch eine Hochburg der Wissenschaften war Wien. Insbesondere war es ein Ort der Medizin.
Unter dem entgotteten Himmel der Städte und dem Eindruck der aufkommenden Industrialisierung hatte sich der Mensch neu zu erfinden. Der Begriff des Individuums trat erst in dieser Zeit in seine heutigen Rechte ein. Der Bürger empfand seine Individuation als Aufgabe, die ihm die Gesellschaft übertragen hatte. Seine Person sollte im Sinne der Gesellschaft beispielhaft sein, „Es“ sollte „Ich werden“, wie Freud es ausgedrückt hatte. Das Ausleben seiner Träume, Affekte, Leidenschaften und Begierden hatte ein scharf gehütetes Geheimnis zu bleiben. Es wurde tabuisiert. Man empfand die Irrationalität als bedrohende, einbrechende Gegenwelt, als das das Ich zerstörende Chaos. Man wurde Individuum, in dem man sich etwas versagte. Der Bürger trug seine Individualität wie eine moralische Maske, hinter der sich das Chaos verbarg.
Das Proletariat wurde als Masse erlebt, die gegen den Bürger stand. Für den Proletarier galten keine Kulturzwänge. Der Mensch in der Masse war nackt. Und die affektive Macht der Masse wurde als Bedrohung von Moral und Kultur empfunden. Karl Marx stellte die Bourgeoisie in ihrer „Charaktermaske“ radikal in Frage, der er jede Individualität absprach. Sicherheit und Unsicherheit wurden elementare Begriffe im kollektiven Erlebnis des Bürgertums. Stefan Zweig schildert die Blüte des Versicherungswesens als Symptom der geistigen Verfassung dieser Zeit. Sich selbst zu bestimmen ist ein langer Prozess, der mühsam und schmerzhaft ist. Sich für sich selbst zu entscheiden, zu sagen, wer man ist, geschieht oftmals gegen den affektiven Wunsch von dieser Selbstbegrenzung erlöst zu werden.
Der Arzt dieser Tage empfand sich als Herr über Leben und Tod und als über diesen Fragen stehend. Mit den Ärzten der NS Zeit fand eine Entwicklung wissenschaftlichen Selbstverständnisses ihr entsetzliches Ende, das seinerzeit kühn in eine radikale Emanzipation aufgebrochen war. Der Arzt sah hinter die Masken, nicht nur hinter die Masken des Individuum, sondern auch hinter die Masken der Moral, ja, selbst hinter die Masken des Bewusstseins. Die Vorstellung von Allmacht gegenüber der Kreatur wurde zum Bestandteil seines Selbstverständnisses. An wehrlosen Patienten wurde mit Hypnose und gar mit Schmerz und Folter geforscht. Der Arzt experimentierte mit Drogen an sich selbst und eroberte sich die Räume hinter der Wahrnehmung der ersten Realität. Sigmund Freud erschloss dem aufgeklärten Denken die Landschaften der Seele. Die Psychoanalyse nahm mit ihm seinen Anfang. Autoren wie Turgenjev oder Tchechov bis hin zu Benn und Céline beschrieben den Menschen neu. Sie alle waren Ärzte. Ärzte wirkten entscheidend am Bild des modernen Menschen mit – wie auch an seiner Zerstörung.
Zwischen Sigmund Freud und seinem Arztkollegen Arthur Schnitzler bestand zeitweise ein lebhafter Austausch. Arthur Schnitzler war wie kein anderen zum Dichter, Chronisten und Porträtisten der Verfassung des Bürgertums seiner Zeit geworden. Er ist der Dichter des Halbbewussten, des Erlebten hinter der Maske, des Tagtraums und der stets gefährdeten brüchigen Verfassung des Ich als provisorisches Bollwerk gegen Traum, Affekt und sexuelle Begierde.
In seiner Traumnovelle beschreibt Schnitzler die Krise des jungen Arztes Fridolin, der seiner sexuellen Versuchung in eine verbotene und lebensgefährliche Gegenwelt folgt. Seine Frau Albertine erlebt im Traum die Auflösung ihrer Ehe in der Vision einer großen und entscheidenden sexuellen Orgie. Für beide endet es glücklich. Sie können der Bedrohung in den Schutz ihrer Zuneigung entfliehen – vorläufig nur, denn sie wissen nun, dass die Bedrohung stets ein Teil ihrer selbst war.
Simone Thoma siedelt in ihrer ersten Inszenierung am Theater an der Ruhr den Stoff in einem Sanatorium, einem Kurhotel an. Der Pathologe Doktor Adler führt die Figuren durch die Handlung wie durch ihr inneres Erleben. Wie in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ ist auch hier nicht sicher, ob die beabsichtigte Erholung nicht Verfall bedeutet und ob die vollkommene Heilung nicht gleichbedeutend mit dem Tod ist.
Zu Arthur Schnitzler finden Sie hier nähere Informationen. Zum Verständnis der Konzeption sind die Männerphantasien von Klaus Theweleit eine wertvolle Anregung. Die Traumnovelle Arthur Schnitzlers lesen Sie hier im Original.
Auf der Seite „die traumnovelle / aus den Proben“ finden Sie eine Galerie mit den schönsten Probenfotos von Peter Kapusta. Links dazu rechts oben oder in der rechten Seitenspalte.