
Ein früherer Kollege im Ensemble war aus Mexiko an das Theater an der Ruhr gekommen. Er erzählte gerne, dass er in damals, als der Bahnverkehr nach Süden vor allem durch das Rheintal führte, etwa hundert und achtunddreissig mal die Loreley aus dem Zugfenster gesehen habe. Was es bedeuten solle, wusste er mit Heinrich Heine ebenfalls nicht. Diese Pointe beendete seine Erzählung. Dem Theatermenschen gilt die Realität auf der Bühne so viel, dass er stets in Gefahr steht, die Wirklichkeit vor dem Fenster als Konkurrenz zu behandeln. Das muss so sein. Tags wird oft in verdunkelten Räumen geprobt.
Wie wird anderswo Theater möglich?
Wir tun mit dem Theater an der Ruhr unsere Reisen hauptsächlich deswegen, weil wir bereits eine Menge zu erzählen haben. Aber auf uns trifft ebenfalls der viel zitierte Umkehrschluss zu. Nach einer Reise haben wir Neues zu erzählen. Wir erleben Wege und Landschaften, Orte und Städte. Mit nicht Wenigen verbindet uns eine so lange und reiche Geschichte, dass wir nach Erlangen, Istanbul, Landsberg am Lech oder auch Teheran heimkehren wie in ein abgeschlossenes Seitenkapitel unseres Theaterlebens mit seinem eigenen, ganz besonderen Lebenslauf.
Wir haben neue Begegnungen. Wir sehen alte Bekannte wieder, die im Laufe der Jahre zu Freunden werden. Wir erzählen, man erzählt uns etwas. Wir freuen uns auf Entdeckung oder Wiederfinden eines Ausblicks, einer Straße, einer nächtlichen Stadt, eines Restaurants oder eines schon einmal bewohnten Hotels. Vor allem aber freuen wir uns auf die Entdeckung oder Wiederfinden eines neuen oder altbekannten Theaters. Ein Theater ist ein Wunder! Wie kommt es hierher? Wie wird es möglich?
Vom Prachtbau aus dem Rokoko zum Parkplatz. Todo la escala social!
Wir wird und vor allem unter welchen Bedingungen wird Theater möglich gemacht? Und von wem? Mit welchen Motiven? An welchen Orten? In einem glanzvollen Raum voller Prunk, Jugendstil oder Belle Epoque, in einem mächtigen oder winzigen Theaterbau, einer kommunalen Mehrzweckhalle, in einer Schulaula oder gar in einer Sporthalle? In Lateinamerika spielten wir auf einem heiligen Berg in den Anden. In Montenegro stellte sich der Spielort zu unserem Entsetzen als Parkplatz heraus.
Wie konnte die Aufführung unter welchen Umständen gelingen? Ob auf großen Auslandsreisen oder unseren Fahrten durch den deutschsprachigen Raum – die Lösungen der sogenannten Provinz sind oft bedeutend kreativer und anregender als der Materialverschleiß der Metropolen. Wir erinnern uns nicht nur der Orte, Landschaften, Hotels, Restaurant und Besonderheiten: Wir erinnern uns der Theater, der Partner, mit denen uns zahllose Geschichten verbinden. Von all dem zu erzählen lohnt in den Zeiten, in denen das Herz der öffentlichen Kultur der ökonomischen Feigheit geopfert wird.
PS: Ein Besuch im Loreley Besucherzentrum lohnt sehr! Ein witziges, kleines und kluges Museum!