Man muss sich an morgen erinnern!
Aus einem Gespräch mit Roberto Ciulli über Gestern, Heute und Morgen auf dem Theater anlässlich der Premiere am 16. 12. 2010.
Die Aufführung der Traumnovelle Arthur Schnitzlers, die in der Bearbeitung und Regie Simone Thomas am 16. Dezember 2010 Premiere im Theater an der Ruhr am Raffelberg feiern wird, bezieht sich wie keine unserer Aufführungen auf die reale Geschichte unseres heutigen Bühnenhauses, vor 1981, als sich das Theater an der Ruhr in den Räumen des ehemaligen Solbades Raffelberg gründete. Das ehemalige Erholungsheim kehrt in traumhaften Bildern auf die Bühne zurück, ebenso wie das Leben, die Programme und Festlichkeiten in Speise- und Redoutensaal um 1911. Ein Herzstück aus diesen Tagen wird das Zentrum des Bühnenraumes markieren. Einer der Kronleuchter aus dem Redoutensaal hat in den Lagerräumen des Theaters an der Ruhr nun über dreißig Jahre auf seinen Auftritt gewartet. Anlässlich dieser Premiere feiert er das Debut in seine Theaterzukunft hinein.
Eine Figur Federico Garcia Lorcas sagt in Roberto Ciullis Projekt Dona Rosita, man müsse sich erinnern, aber umgekehrt – man müsse sich an morgen erinnern. Das Paradox ist schnell gelöst. Das Theater selbst hat sich in der Geschichte Europas stets an Morgen erinnert. Dies war eine seiner wichtigsten Funktionen. Der Figaro des Beaumarchais war es, der als Sturmvogel der Revolution mit seiner Premiere die Geburt der Revolution und ihrer Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einläutete. Die Mannheimer Uraufführung von Schillers Räubern, vom Publikum als ekstatisches Erlebnis gefeiert, markiert den Beginn von Sturm und Drang, dessen erste demokratische Impulse direkt in den Vormärz und keine siebzig Jahre später in die Frankfurter Paulskirche führten. Aber auf dem Theater bedeutet es mehr, sich an morgen zu erinnern.
Die Traumnovelle nimmt am Theater an der Ruhr unter Aufführungen ihren Platz ein, die zum Teil älter als zwanzig Jahre sind. Dennoch haben auch sie bis heute nichts von ihrer Gegenwärtigkeit und Aktualität eingebüßt. Fast könnte man sagen, sie hätten bei ihrer Premiere ihr zukünftiges Publikum erst finden müssen. Ihre Zuschauer erst oftmals provozierend und verstörend, haben sie sie letztlich in eine Zukunft begleitet, in der sie erst allgemein verstanden werden konnten. Sie waren ihrer Zeit voraus, was das Theater stets sein sollte. Sie erreichten nicht nur hiesiges, sie erreichten überregionales und internationales Publikum. Sie wurden im Verlauf von mehr als einem Jahrzehnt nicht etwa alt. Einige wurden von Skandalen zu großen Publikumserfolgen.
Roberto Ciulli, in der Traumnovelle in der Rolle des Dr. Adler zu sehen, hat in den letzten zwei Monaten eine Reihe von Theaterführungen ins Leben gerufen, in denen er selbst durch die Räume des Hauses führt und Geschichten aus dreißig Jahren erzählt. Er spricht über die Vergangenheit; Gegenwart und Zukunft, die das Theater braucht, um sich an morgen zu erinnern.
Ohne Vergangenheit kann es selbst am Theater keine Zukunft geben. Aber im Kulturbetrieb der alten wie auch der neuen Bundesrepublik wird oftmals brutal datiert, wenn die Leitung eines Theaters wechselt. Der neue Intendant definiert als erstes das fiktive Jahr Null einer Zeitrechnung von seiner eigenen Gnaden, er löscht den alten Intendanten und seine Arbeit aus.
Damit spiegelt er die Methoden und den Wertbegriff der Konsumgesellschaft. Aber auch seine eigenen Aufführungen überleben selten eine Spielzeit und damit nicht einmal ein Jahr. Oft ist der nicht sofort akzeptierte Abend nach nur acht Vorstellungen abgewickelt – ein Abend, der unabhängig von seinem künstlerischen Wert immense Summen verschlungen hat. Neuproduktion, Wegwerfen und erneute Produktion sind der Herzschlag der Industrie wie der Kulturindustrie – und der Kultur, die die industriellen Gesellschaften hervorbringen. So wird die Voraussetzung für Erinnerung in unserer Kultur ausgelöscht.
Die Gefahr ist klar ersichtlich. Keine Zukunft kann dort erfunden werden, wo keine Gegenwart ist. Wo aber keine Vergangenheit ist, kann Gegenwärtiges weder verstanden noch gekonnt manifestiert werden.
Das Theater an der Ruhr geht den umgekehrten Weg. Wie die Clowns, wie bereits die Commedia de’ll Arte benötigt das Theater sein Handwerk. Aber das Handwerk des Theaters ist kein überzeitlicher Regelkanon. Es ist Resultat der lebendigen Tradition derer, von denen wir gelernt haben. Sie lebt dadurch fort, dass wir Heutigen sie lernend verändern und aktualisieren.
Das Theater an der Ruhr hat sich für seinen Weg der eigenen Tradition und ihrer Aktualisierung entschieden. Dieser Grundgedanke kommt heute nach nunmehr dreißig Jahren zu einer Erfüllung, die man tatsächlich erleben kann. Wir Theatermacher wie auch das Publikum haben klar vor Augen, was vor dreißig Jahren vorgestellt wurde. Wir können den Weg sehen, den wir gegangen sind. Wir können sehen, wie wir uns geändert haben. Und wir können sehen, wie sich die Welt und die Gesellschaft geändert haben, die unsere Aufführungen besucht.
Eine junge Generation kann auf der Bühne etwas sehen, was es bereits seit mehr als zehn Jahren gibt. Das ist in der heutigen Theaterlandschaft sehr selten geworden. Nicht nur thematische Aktualität, auch durchlebte Geschichte wird in den Aufführungen immer wieder von neuem aktualisiert und sinnenfällig gemacht. So wird auch in den älteren Vorstellungen des Theaters an der Ruhr – in klarer Überschau von künstlerischer Vergangenheit und Gegenwart – die Zukunft immer wieder neu erfunden. Eine Reihe von Vorstellungen bieten dieses Erlebnis an. Kaspar, Antigone, Der Kaufmann von Venedig und Gott haben die längsten Geschichten zu erzählen.
Nur zwei andere Theatermacher im deutschen Sprachraum haben die Aufführungen ihrer Häuser genau so als das Kapital ihrer Unternehmen verstanden und sie gegen den Ungeist des Wegwerfens durchgesetzt. Es waren Claus Peymann mit seiner Iphigenie und den Uraufführungen der Stücke von Thomas Bernhard – und Pina Bausch, die allen ihre Arbeiten eine erwachsene Biographie ermöglichte.
Fragt sich ein Schauspieler, warum er nach mehr als zehn Jahren immer noch am Theater an der Ruhr ist, so kann einer seiner Gründe die Tatsache sein, dass es hier die Möglichkeit gibt, mit der Rolle erwachsen oder gar alt zu werden. Sie wird ein Teil seines Lebens. Es ist für den Schauspieler in der Regel möglich, sein Leben am Theater an der Ruhr verbringen, wenn er sich dafür entschieden hat. Auch wenn er dabei zehn Jahre durch die Hölle gehen muss, kann er in dieser Zeit das Einzigartige finden, das kein Schauspieler außer ihm verkörpern kann. Dies zu entdecken muss er einen großen Teil seines Lebens investieren. Aber er muss diese Hölle nicht im endlosen Rhythmus von Wegwerfen und Neuproduktion wiederholen. Von den Genieschauspielern sehen wir übrigens dabei ab – aber auch der Unbegabteste weiß nach dreißig Jahren, was er da spielt. Das ist sicher.
Der Kronleuchter hängt bereits auf den Proben und erwartet seine Premiere. Aber er ist nicht ganz der selbe geblieben. Er ist aktualisiert. Er ist verändert. Er ist seiner Vergangenheit ähnlicher und zugleich zukunftstauglicher gemacht worden. Nun ist er in der Lage Bühnenschatten zu werfen und Bühnenlicht zu spenden, wie es uns auch in vielen Jahren noch verzaubern und entzücken kann.
Bild des Kronleuchters und Portrait R. Ciulli von Peter Kapusta