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Kaspar in Madrid, vom 30. 5. bis zum 5. 6. 2011

19. Juni 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Madrid

Um es sofort zu bekennen – ein Besuch in Madrid ist für mich immer eine der besondersten Reisen gewesen die man nur unternehmen kann. Bei weitem nicht nur innerhalb oder außerhalb Europas übrigens – diese Stadt zu betreten, ist für mich immer wieder wie die Landung auf einem anderen Planeten mit seiner eigenen Atmosphäre; auf einem Himmelskörper allerdings, der nicht mehr als höchstens eine Handbreit über dem Boden der Meseta und dem Zentrum Spaniens zu schweben scheint. Hier gehen alle Uhren etwas anders. Kontakte, Kommunikationen und Gespräche, Küche und Restaurants, jede Straßenecke, jeder Fußgängerübergang und jeder Einblick in Gassen und Straßenfluchten bieten neue ungewohnte Perspektiven und Überraschungen. Der Reisende erfährt mit allen Sinnen, wie wenig Europa durch seine mittleren und nördlicheren Gefilde allein repräsentiert werden kann. Wir Mitteleuropäer vergessen das gerne. Nein, Europa, das ist nicht nur so wie bei uns. Es bietet uns vollkommen unbekannte Welten, aufregende Alltagskulturen und jede Menge Lernstoff, weit mehr als es die vor allem bürokratischen Neuigkeiten aus Brüssel uns glauben machen.

Ein Planet schwebt eine Handbreit über dem Boden.

Schwärmerei beiseite – aber auch so bietet Madrid eine der am wenigsten amerikanisierten, globalisierten oder nivellierten, eine der authentischten und vitalsten Stadtkulturen Europas. Madrid ist keine sehr alte Stadt, aber alle ihre geschichtlichen Zeugnisse präsentieren sich belebt und lebendig, als genutzter und geliebter Teil eines regen und besonderen Stadtlebens. Spätmittelalter und frühe Neuzeit bilden die Atmosphäre auf und um die Plaza Mayor, das neunzehnte Jahrhundert, Jugendstil und Art Deco prägen die nördlichen Stadtviertel. Die gigantische Gran Via entfaltet das Panorama einer Welt zwischen der Ära der ersten Republik und dem Art Deco der dreißiger und vierziger Jahre. Im Schatten der Paseos, um den Prado und selbst im Park von Buen Retiro spürt man die einstige Weltmacht eines Reiches, in dem die Sonne nicht unterging.

Nach dem Ende des Regimes des Caudillo veränderte die Bewegung „la Movida“ der achtziger Jahre Stadt und Land. Ganz Spanien erfand sich selbst neu. Eine veritable Prinzessin, erwachte Madrid aus ihrem von der faschistischen Lähmung erzwungenen Dornröschenschlaf. Der Jugendstilbahnhof Antocha wurde zum Palmengarten. Im Museo Reina Sofia erleben wir die ungeheure Bedeutung, die Spanien in Kunst, Literatur und Politik für die Moderne hatte auf völlig neue Art. Die große Tradition aktualisiert sich, Stadtviertel definierten und definieren sich immer wieder neu. In Huertas, um die Plaza d’Angel und das Spanische Nationaltheater wird die Erinnerung an die Dichter, Erzähler und Essayisten Spaniens besonders wach gehalten: ihre Worte, als metallene Lettern in das Trottoir eingelassen, von den unzähligen Schritten leuchtend poliert, erschließen uns Blick und Ort. Nach jeder Himmelsrichtung ist es mindestens eine Tagesreise bis zum Meer und doch findet man überall die frischesten und köstlichsten Fische.Wir wohnen im Viertel Chamberì, im Hotel HD Argüelles in der Via Valdehermoso. Es ist noch nicht heiß, ein leichter kühler Wind weht. Nur wenige Straßen sind hier nicht baumbeschattet. Straßen und Plätze leuchten im frischen Laub und den sonnengelben Blütenrispen der Jacaranda-Bäume.

Ein Herbst im Frühling.

Eingeladen von dem Festival Otoño en primavera suchen wir Spanien und Madrid in schwierigen Zeiten. Surreale Welten überlagern sich, die nicht aufeinander passen. Wie in versetzten Spiegeln oder eingerissenen Spiegelfolien brechen sich die Bilder. Aus den Fenstern des Cafés „La Mallorquina“ kann man nicht wie gewohnt in die Weite der Puerta del Sol sehen. Man sieht über die blau leuchtenden Foliendächer einer Zeltstadt. Die Demonstranten besetzen die Zentren der spanischen Städte. Die spanische Post verschandelt mit einem zitronengelben Barackenwürfel aus Blech und Glas die Plaza Mayor. Briefmarken mit Militär- und Naturmotiven werden beworben. Indische Wochen mit allen Beispielen der Tandoori Küche werden in kleinen Blechbuden gegenüber dem Teatro Valle-Inclan abgehalten. Das Festival, dessen Gäste wir sind, findet statt, aber findet in der Stadt keinen merklichen Widerhall. Nicht einmal die Plakatierung ist besonders wirkungsvoll. Das Theater, das die Stadt tatsächlich beherrscht, ist das Theater der zahllosen Bettler. Man bettelt mit kleinen Inszenierungen, oftmals in überraschenden und originellen Kostümen, Posen, Gesten und kleinen Szenen. Sehr viele Menschen betteln so.

Das Teatro de la Abadìa.

Wir spielen im Teatro de la Abadìa, ebenfalls im Viertel Chamberì gelegen. Das Haus ist eine säkularisierte Kirche, ursprünglich Teil eines groß angelegten städtischen Kinderheimes, das heute noch betrieben wird. In den schattigen Gärten um das Theater und im Ensemble der Heimbauten stehen lächelnde Märchenfiguren aus Beton zwischen Rosensträuchern und Hecken.
Die Bühne des Theaters ist in die dreifache Apsis gesetzt, eine Besonderheit des Baus ist ein sofort am Eingang in zwei getrennte Hälften gespaltener Zuschauerraum. So spielt man vor zwei verschiedenen Publika. Der Kirchenraum wurde so angelegt, um Kinder und Jugendliche scharf nach Geschlechtern trennen zu können.

José Luis Gomez, Schauspieler, Pantomime und ehemaliger Direktor des Spanischen Nationaltheaters, hat das Teatro de la Abadìa gegründet und leitet es seitdem. Dem Autor dieser Zeilen bleibt er in der Rolle des Unternehmers Ernesto Martel in Almadovars Film Zerrissene Umarmungen von 2009 unvergesslich. Dem mächtigen Mann werden Filmbeweise für die Untreue seiner Frau vorgelegt – ohne Ton. Eine weibliche Fachkraft für Lippenablesen trägt dem Tycoon mit leidenschaftsloser Stimme eine lange Reihe entsetzlicher Sätze vor, die seine Frau ihrem Liebhaber sagt – über ihn. José Luis Gomez spielt über einige lange Einstellungen den vollkommenen Zusammenbruch seiner Figur hinter der Fassade eines einzigen Blickes, einer einzigen Miene, einer einzigen Haltung in einem eingefrorenen Stupor, so, als habe dieser Mensch einen zeitfreien Raum betreten in dem er nunmehr endlos verharren wird. Der Ausdruck, den er dabei findet, ist nicht etwa der des höchsten Entsetzens, sondern ein Ausdruck höchsten Interesses an der unvermutet eingetretenen tödlichen Verletzung.

Unvermutete Gemeinsamkeiten.

José Luis Gomez sprich fließend Deutsch, er hat 1965 Schauspiel an der Schauspielschule Bochum studiert. Mit Volker Roos duzt er sich, 1969 haben beide bereits in Handkes Kaspar in Nürnberg auf der Bühne gestanden.
Das Teatro de la Abadìa ist ein Labor zur Umsetzung seiner künstlerischen Ideale. Es ist eine Theaterschule, ein Institut der Forschung und der Ausbildung von Künstlern ebenso wie ein Theaterbetrieb mit Hausproduktionen und Gastspielen. Über die Schüler der Institution hinaus gibt es kein weiteres festes Schauspielensemble, für die einzelnen Produktionen werden zusätzliche Gäste engagiert. Die fest engagierte technische Mannschaft des Hauses ist jung, begeistert und hoch qualifiziert. Wir werden ihre wie auch die Gastfreundschaft José Luis Gomez und des gesamten Hauses nicht vergessen. Ihnen allen sei hier an dieser Stelle herzlich dafür gedankt! Die desolate Lage der spanischen Haushalte wirkt sich existentiell auch auf die Arbeit des Teatro de la Abadìa aus. Die Zukunft ist ungewiss.

Das Modell Kaspar.

In Peter Handkes Stück „Kaspar“ wird das Schicksal des Findlings Kaspar Hauser, der 1812 sprachunfähig aufgefunden wurde und 1833 einem Attentat zum Opfer fiel, zum Anlass einer sprachanalytischen Meditation über die Deformation und Versklavung des Menschen allein durch das Erlernen einer Sprache.
Die Inszenierung des Theaters an der Ruhr hat Modellcharakter für die Arbeit Roberto Ciullis und unseres Ensembles. Zu ihrer Entstehungszeit in den achtziger Jahren oftmals heftig vom Publikum angefeindet, wurde sie im Lauf der Jahre zu einem der größten Erfolge des Theaters an der Ruhr. Heute genießt sie Kultstatus. Sie hat in vierundzwanzig Jahren fast die ganze Welt bereist. Die Aufführung wurde in Polen, Bosnien und Serbien, in Kasachstan, Kirgistan und Uzbekistan, im Iran und ein Jahr vor Ausbruch des zweiten Golfkrieges auch im Irak gezeigt, ebenso in Südamerika und in Schweden. Zuletzt war es im November 2009 kurz vor Ausbruch der Tunesischen Revolution in Tunis zu sehen.
„Kaspar steht“ so Roberto Ciulli, „ für die universelle Kraft der Theatersprache, die nicht nur einen Dialog mit anderen Kulturen ermöglicht, sondern diesen einzigartig macht“. Diese Aufführung gesellt der abstrakten Dichtung Handkes eine textunabhängige surreale Dichtung in der universellen Sprache des Theaters bei. Beide Dichtungen schaffen emanzipiert von einander und doch gemeinsam ein unvergleichliche Bühnenwelt.

Schwarze Erziehung, Sprache und Sprachlosigkeit der Unterdrückung.

In Roberto Ciullis findet das Stück in einem Raum außerhalb der realen Zeit statt. Kaspar, das wilde Kind, ursprünglicher Mensch in Muße, wird von der schwarzen Herren der Zivilisation entdeckt wie ein archäologisches Artefakt. Photographiert, dokumentiert wird er schließlich seiner Welt entrissen. Nun tritt er eine Reise durch eine Kindheit als Labor an. In einem Wohnzimmer, dass irgendein Wohnzimmer ist, ist das einzig bunte Möbel eine Art Laufstall – ein Würfel, der jede freie Bewegung des Kindes unmöglich macht. Nur sein vom Körper getrennter Kopf sieht daraus hervor. Und mit dem kann er nur eines: Schreien – oder eben sprechen.

Die drei schwarzen Herren beginnen ihr Erziehungswerk. Bilderbuchfiguren von Esel, Wolf und Lamm exerzieren das Urbild der schwarzen Erziehung aus den Kirchenschulen des Mittelalters. Die Struwwelpeter-Grammatik hinterlässt ihre Risse und Brüche in der Seele des Kindes. Die schwarzen Herren führen ihre Laborarbeit fort. Selbst die endgültige Entscheidung für ein Geschlecht ist Zwang. Aus dem betäubten Menschen wird eine Frau mit dem Skalpell herausoperiert. Nun werden die Erzieher scheinbar zu Freunden oder gar Partnern. In Feier, Gesellschaftsspiel, Party, in trauter Runde oder in der dröhnenden Diskothek schaffen sie den durch Sprache vollkommen determinierten Menschen, den perfekten Baustein für unsere zivilisierte Gesellschaft. Der weibliche Kaspar besteht die Prüfung. Sie ist fertig. Sie ist angepasst. Sie hat keine Möglichkeiten mehr und nur noch einen Weg vor sich: den des Systems, dem sie durch die Sprache versklavt ist.

Zivilisation der Bestien.

Der zweite Teil der Aufführung ist eine reine Erfindung des Theaters. Im Text ist sie in keiner Weise veranlagt.

Eine Zivilisation, die derartig die Sprache missbraucht, wird eines Tages die Sprache verlieren. In dieser Zukunft wird Kaspar das einzige Wesen sein, das noch über eine Sprache verfügt. Die Menschen dieser Zukunft haben sie längst verloren. Von ihrer einstigen Zivilisation ist nur Form und Reflex geblieben. Sie selbst sind schlimmer als Tiere geworden: Lemuren, Wiedergänger und Bestien. Der verrückte Kaspar und die letzten Worte seiner entrückten Sprache sind der Gegenstand einer Art Anbetung geworden. Sie sind die Heiligtümer bestialischer Wesen.

Wie eine geschmückte Mumie ist der gefesselte Kaspar als Heiligenbild ausgestellt. Eine Familie macht ihren Sonntagsausflug zum Gnadenbild – in der Hoffnung das Wunder zu erleben und einige Worte der einstmaligen Sprache zu hören. Die Form zeigt noch bürgerliche Formen, aber der Umgang miteinander ist zutiefst grausam geworden. Selbst einen Instinkt des Mitfühlens oder Rituale der Solidarität und der Schonung wie sie die Tiere kennen, gibt es nicht mehr. Die geschlechtsreife Tochter ist bloßer Besitz. Die Söhne sind die gefürchteten Konkurrenten eines Vaters, der, seinerseits ein unterdrückendes Monster, den Bewerber um die Gunst der älteren Tochter kurzerhand mit dem Knüppel erschlägt. Die Mutter ist ein in gutbürgerliche Pose erstarrtes traumatisiertes Tier. Kaspar wird nicht zu ihnen sprechen, der Ausflug mit Totschlag bleibt vom Wunder ungekrönt. Auch zum jüngsten verkrüppelten Mädchen der Familie, das ihm seine Puppe schenken wird, wird Kaspar nicht sprechen.
Allein spricht er schließlich. Aber außer einem Toten ist niemand da, ihn zu hören oder gar zu verstehen, wenn er den Bogen von Alpha nach Omega – Aale und Ölkrapfen – oder auch von Z bis A schlägt. Ziegen und Affen schlägt; sich immer wieder im Kreis drehend und keinen Ausweg mehr findend.

Gesprächsfetzen.

Nach der Premiere gibt es anlässlich eines kurzen Empfangs ebenso kurze Gespräche mit spanischen Kollegen. Das Theater an der Ruhr trifft auf seinen Reisen immer wieder auf aufkochende politische Situationen und kommt mit Dissidenten und Aktivisten schnell in Diskussion und Austausch. In Tunis kam es zu leidenschaftlichen Gesprächen mit zahllosen Menschen, die bald darauf die Revolution verwirklichen sollten. Hier und heute in Madrid kommt es nicht zum Kontakt mit der Bewegung.

Die Kollegen erzählen wenig. Wie alle fortschrittlichen Spanier stehen auch sie hinter der Volksbewegung, die die Plätze der Städte besetzt hält. Nein, sie sehen auch bei der kommenden Wahl keine echten Alternativen zu der jetzigen Misere und keinen Ausweg aus der Misere, den eine andere Regierung im Gegensatz zur der Jetzigen verwirklichen könnte. Ihre Bewegung sehen sie als eine Revolution, aber eine friedliche Revolution, die die verschiedensten Interessen und Engagements im Geist des voreinander und des für einander geforderten Respekts vereinigt. Anarchosyndikalistische Prinzipien werden diskutiert. Man erwartet die wichtigsten Veränderungen vom Engagement der Bürger selbst; nicht im Land, nicht einmal in der ganzen Stadt übrigens, sondern in den Stadtteilen. Ein Graswurzelrevolution hat ihr friedliches Wachstum begonnen. Toma la plaza! Wir haben die Zeltstadt auf der Puerta del Sol gesehen, mehrmals durchquert und die meisten Schilder der verschiedensten Richtungen und Gruppen verstanden. Es fehlt dieser Revolution beileibe nicht an nicht an Engagement oder Elan. Es fehlt ihr, so sieht es aus, an wirklicher Utopie. Was uns aus den wenigen englischsprachigen Flugblättern verständlich wird, sieht mehr nach dem hart erarbeiteten Konsens verschiedenster Kleingruppen als nach einer zukunftsträchtigen Vision aus. Vielleicht ist das wirklich effizienter? Der Bewegung sei es von Herzen gewünscht!

Stadtdörfer der Zukunft?

Die Zeltstadt auf der Puerta del Sol lebt ihr friedliches, fast dörfliches Leben, das Polizeiaufgebot ist moderat, souverän und unangestrengt. Selbst an Christi Himmelfahrt unterbleibt die befürchtete Räumung.
Es ist hier ein wenig so, als würden postkatastrophale Siedlungskonzepte erprobt. Gemüsebeete zwischen aufgebrochenen Pflastersteinen hätten nicht überrascht. Es gibt sogar eine Bibliothek mit Lesesaal unter den blauen Planen. Für das Festival oder für momentane Kulturereignisse interessiert man sich scheinbar nicht. Es gibt nur ein englischsprachiges Flugblatt, etwas kleiner als DIN A 5. Alles andere steht nur auf Spanisch zur Verfügung. Große Runden sitzen, hören, reden und diskutieren Stunde um Stunde. Kontakt zu ihnen entsteht nicht.
Jean Genet verließ die Demonstrationen der Achtundsechziger, als er bemerkte, dass nur die Theater gestürmt wurden, nicht etwa der Flugplatz oder das Polizeipräsidium. Die in Madrid haben nicht einmal die Theater gestürmt. Oder besucht. Und letzteres zumindest ist doch eigentlich schade! Vermutlich wussten sie nicht einmal von unserem Besuch.

Das eigentliche Stadttheater.

Wie gesagt, das einzige Ereignis von Subkultur waren die zahllosen Kleintheater und Mikroinszenierungen der Bettler. Immer wieder und überall. Und, wie gesagt, einfallsreich. Gar nicht schlecht. Manche großartig. Die hätten Aphorismen von Valle-Inclan sein können…

Kontakt entsteht auch nicht zum Festival selbst. Wäre nicht die wunderbare und hilfreiche Vertreterin des Festivals, Anna, gewesen, wir hätten kaum gemerkt, dass überhaupt eines stattgefunden hatte. Ihr sei herzlich gedankt, nicht nur in unserem Namen, auch in dem des Festivals! Für mich hat es ihr Gesicht, kein anderes.
Schließlich werden wir doch noch auf einen Empfang in einer Kneipe unweit des Zentrums geladen. Es gibt Musik und Cocktails, einen Stempel auf die Hand und die entsprechenden Ermäßigungen auf die Getränke. Vom Festival treffen wir niemanden, geraten mit niemanden ins Gespräch. Der einzige Unbekannte, mit dem ich an diesem Abend kommuniziere, ist der Rausschmeißer. Er erklärt mir und auch anderen Gästen mit einem sanften Griff am Ellenbogen, dass man sich mit seinem Getränk besser nicht auf das Geländer des gegenüberliegenden Spielplatz setzt, dann führte er uns sanft dem Kneipeneingang wieder zu, einen nach dem anderen. Aber ein schöner Abend war es auch so.

Das Erlebnis ist Kunst.

Wir gehen viel ins Museum. Die Welten des Prado zu beschreiben würde den Rahmen weit ausführlicherer Berichte sprengen. Die Welten des Hieronymus Bosch, die Wunder des El Greco, das Wissen vom Menschen in den Bildern von Velasquez und Rubens, vor allem aber die Reise durch Werk und Leben Francisco Goyas, die dieses Museum ermöglicht; sein aufgeklärter Blick, der das Herz bricht – all das bleibe hier weiter unbesprochen. Wer will, fahre hin. Aus dem Leben des Autors ist dieser Eindruck nicht mehr wegzudenken. Es wäre nicht dasselbe gewesen ohne diesen Eindruck.

Besonders erwähnt sei hier ein zweites Museum Madrids, das Museo Reina Sofia. In Themenkreisen gehängte Werke, ergänzt um Filme und historische Materialien zu den Hintergründen des besonderen intellektuellen Leben Spaniens und Madrids, führen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis fast in unsere Tage – und auf eines der größten Werke Picassos zu. Das Bild Guernica ist hier nicht nur zu sehen, sondern auch zu begreifen, mit zu empfinden und zu verstehen. Das liegt nicht nur an den beigesellten Vorstudien und Filmen. Man hat es sich erwandert, durch die berühmten wie die vergessenen Räume des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Dem Autor wurde Erlebnis, was Peter Weiss in seinem Roman „Ästhetik und Widerstand“ so nachdrücklich beschrieb: das Zusammenwirken von Kunst, Utopie, Revolte und dem Ringen um ein menschenwürdiges Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die lichte Seite des dunklen zwanzigsten Jahrhunderts. Alarmiert bemerkt er, dass ihm selbst diese großen spanischen Traditionen in keiner Weise mit der auf den Plätzen erlebten Revolte in Verbindung zu bringen waren. Er hofft in diesem speziellen Punkt, in diesen wenigen Tagen nichts oder auf jeden Fall viel zu wenig verstanden zu haben.

Apropos Bettlertheater: Ramon del Valle-Inclan

Der große spanische Dramatiker und Romancier Ramon del Valle Inclan entwickelte in den zwanziger und dreißiger Jahren seine eigene, hier zu Lande weitgehend unbekannte Theatertheorie, die des „Esperpento“, der Schauerposse. Der Mensch der Antike, so begründete er seine Dramen, habe sich den Figuren seiner Werke auf den Knien genähert, er sah sie als Götter und Heroen. Der Autor des bürgerlichen Zeitalters habe sich in Augenhöhe zu seinen Figuren empfunden. Er habe sie als enge Freunde, als Verwandte oder auch als Feinde, vor allem aber als Menschen gesehen, zu denen er in echter persönlicher Beziehung stand. Der Autor der Zukunft aber, so schrieb er, stünde wie ein fliegender Raubvogel weit über der Menge der Menschen, überblicke den Irrsinn ihrer Bewegungen, Richtungswechsel und Affekte – und empfände dabei Schauder der Angst, gepaart mit großem Gelächter über all die Absurdität dieses menschlichen Alltags, seiner Absichten und seiner Utopien.

Zum Abschied Dank!


Ich ende mit Dank für wunderbare Tage an Roberto Ciulli, an José Luis Goméz und seine Mitarbeiter, an das Teatro de Abadìa und das unsichtbare Festival Otoño en primavera!

Dem Madridreisenden unter unseren Lesern sei zum Abschluss ein besonderes Restaurant empfohlen. Auf einem der stillsten und schönsten Plätze Madrids, der Plaza de la Paja, liegt das kleine Restaurant NAÏA, das mit einem Periodensystem der köstlichsten Zutaten der spanischen Küche wirbt.

Das Menu del Dia ist preiswert und vorzüglich, besonders die Fischküche ist köstlich einfallsreich. Die Terrasse auf dem wunderschönen Platz bietet unvergessliche Stunden! Albert Bork und ich waren jeden Tag da…Vielleicht lernen auch Sie eines Tages Madrid zu lieben, so wie ich und vielleicht wir alle es wieder, manche neu und manche von neuem, gelernt haben.

 

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„Was ihr nicht begreift, ist die Mechanik.“

17. Mai 2011 by Rupert Seidl Leave a Comment

Bertolt Brechts Dreigroschenoper am 11. und 12. März 2011 in Rüsselsheim

Das Theater Rüsselsheim steht am Treff, ein Rund von Neubauten um einen Platz, der mitgestalteter Teil der geschlossen konzipierten Anlage ist. Die Städtebauer haben urbanes Lebens vorgesehen. Aber dazu liegt der gesamte Treff wohl etwas zu sehr seit ab, obwohl sich auch Volkshochschule und Bücherei im selben Ensemble befinden. An diesem Wochenendabend geht nur manchmal jemand über diesen Platz.

Der Empfang des Hauses ist herzlich und großzügig. Bühne und Zuschauerraum sind riesig. Im lichtdurchfluteten Foyer steht neben den Arbeiten eines Kunstwettbewerbs hier und da große Kunst, besondere Stücke, gar ein kleiner Rodin. Rüsselsheim ist die Stadt der Opelwerke.

Wer finanziert die Theater wirklich? Sieht man den Theatern ihre Finanzierung an? Was entstehen für Theater aus welcher Finanzierung? Was ist das überhaupt, Finanzierung? Ernst Josef Aufricht war Theaterproduzent im Berlin der Weimarer Republik. Wir verdanken ihm eines der schönsten Bücher über das deutsche Theater des zwanzigsten Jahrhunderts, seine Erinnerungen Erzähle, dass Du Dein Recht erweist. Aufricht war ebenfalls der Produzent der Uraufführung der Dreigroschenoper. Bei Probenbeginn hatte er kein Stück. Eigentlich hatte er nur Brechts Idee. Und ein paar Zettel von seiner Hand, Notizen über Stoff und Absicht der Arbeit. Theaterfinanzierung war im Berlin der Weimarer Republik Geldanlage. Theater waren oftmals rentable Unternehmen. Der Geldgeber, mit dem Aufricht zum ersten mal über die Idee der Dreigroschenoper sprach, kam aus dem Bankfach. Sehen sie, sagte er Aufricht, hier habe ich zwanzigtausend Reichsmark. Ich könnte sie Ihnen jetzt geben. Aber ich habe eine wesentlich bessere Idee: wir gehen jetzt gemeinsam auf die Toilette, werfen die Scheine in den Abort und spülen sie einfach herunter. Das hat den selben Effekt. Und Sie haben sich zumindest sehr viel Arbeit erspart.

Der Geldgeber hatte sich gründlich getäuscht. Die Dreigroschenoper wurde der größte wirtschaftliche Erfolg im Theater der Weimarer Republik. Es war nicht nur der Erfolg Bertolt Brechts, es war auch der große Erfolg der Songs von Kurt Weill. Es war ein Erfolg aller Beteiligten, ein Erfolg selbst der Besucher auf den Proben. Karl Kraus sah eine Probe des Eifersuchtsduetts und schenkte dem Autor begeistert weitere Strophen, der Song war ihm viel zu kurz. Es gab kein Stück. Alles entstand auf den Proben. Kräche und Improvisationen lösten einander ab. Bis kurz vor der Premiere war unklar, ob es überhaupt eine Premiere geben könne. Und dann hab sich dennoch der Vorhang zu einem begeisterten, zu einem rauschenden Theaterfest.

Mit dem Ende des ersten Weltkrieges waren alle großen und ewigen Ideale der Deutschen als Schwindel entlarvt. Ehre, Treue, Gott und Vaterland, das Mutterherz und die Heimatliebe, Männerfreundschaft und holde Treue der unschuldigen Mädchen, all das deutsche Wesen an dem die Welt hätte genesen sollen, moderte in den flandrischen Schützengräben.

Brecht stellte sich mit seinem neuen Stoff drei Fragen, die später seine Theatertheorie entscheidend prägen sollten. Ist es möglich, eine Theatergeschichte zu erzählen, in der Handlung und Konflikte ausschließlich von den zwei Motivationen angetrieben werden, die das große Sterben der Ideale überlebt hatten um nun umso machtvoll sichtbarer hervorzutreten; von der Gier nach Geld und der Gier nach Sexualität? Ist es fernerhin möglich, mit einer Geschichte zu interessieren, die nicht spannend sondern vorhersehbar sein will? Eine Geschichte, bei der man es eigentlich gleich gesagt haben kann, eine Geschichte, bei der man sich nunmehr in aller Ruhe auf die näheren Umstände des Eintritts des Vorhergesehenen konzentriere?

Die dritte seiner Fragen war die Frage, die Brecht hatte zum Marxisten werden lassen. An ihrer Aktualität hat sich bis heute nichts geändert. Über Sex wissen wir etwas, wenn wir nur ehrlich genug sind, hin und in uns hinein zu sehen. Aber was wissen wir vom Geld, seinen Wegen, von den Kämpfen, die um das Geld geführt werden und von den Waffen dieser Kriege? Wenig. Nichts. Könnten wir sagen, was Geld wirklich ist? Nein. Können wir andererseits in einer Demokratie verantwortlich handeln, wenn wir der Wirtschaftsteil der Zeitung mit schlechtem Gewissen überschlagen müssen?

Fundamentalismus kann auch als das Resultat ökonomischen Unwissens gesehen werden.

Brecht sah mit dem Marxismus die Möglichkeit, durch Revolution wie auch ökonomische Alphabetisierung eine verantwortlichere und emanzipiertere Gesellschaft zu realisieren. Aber hat das stattgefunden? Gelang der Versuch nach den Revolutionen? Bislang nicht. In Zeiten der Globalisierung wird deutlich, das Demokratie vielleicht nur noch der Handlanger der Macht des Geldes sein kann, dessen Zirkulation sich längst aus den Verantwortlichkeiten Einzelner in einen mechanischen Ablauf verselbständigt hat. Fraglich, ob man in ihn noch eingreifen kann. So vorbereitet wie wir es sind jedoch keinesfalls. Hat immer noch keine ökonomische Alphabetisierung der Gesellschaft stattgefunden? Warum nicht? Oder wird in absehbarer Zeit etwas derartiges stattfinden? Jede Aufführung der Dreigroschenoper stellt diese Frage.

Roberto Ciulli geht mit seinem Konzept für die Inszenierung in die italienischen Kinos seiner Kindheit, dorthin, wo Illusion zur Ware und Utopie zum Kosumgut wurde.

In nicht nur den italienischen Kinos der dreißiger Jahre gab es die Pausen, in denen die Filmrollen gewechselt wurden. Ein halbrunder Steg, die sogenannte Passarella, die vordem das Klavier des Stummfilmpianisten umschlossen hatte, wurde in diesen Minuten Schauplatz eines besonderen Programms. Varietékünstler traten auf, die nicht nur ihre besten, sondern längst auch ihre weniger guten Tage gesehen hatten. Siebzigjährige Soubretten, Tenöre, die ihre Stimme verloren hatten oder Jongleure, die ihre Teller fallen ließen wurden dem johlenden Publikum gleichsam in der Manege zum Fraß vorgeworfen.

In Roberto Ciullis Inszenierung wird solch eine Passarella vor einer leeren Leinwand zum Schauplatz des Brechtschen Weltentwurfes um Sex und Geld. Die Oper, die so prächtig sein sollte, wie nur Bettler sie erträumen und zugleich so billig, das nur Bettler sie bezahlen können, wird von Künstlern gespielt und dargebracht,die unstreitig bald ebenfalls betteln werden. Trübe, aber aktuelle Aussichten für die Schauspieler in den Zeiten der Abwicklung öffentlicher Kultur!

Aber die Dreigroschenoper wird in Rüsselsheim vor allem als Oper gesehen. Es ist nicht genau auszumachen, ob das Publikum für das Theater zu begeistern ist oder ob es um seiner Grimmschen Lieblingsmärchen vom Haifisch oder der sexuellen Hörigkeit wegen das dazugehörige Spiel der Darsteller eher ergeben in Kauf nimmt. Der Autor dieser Zeilen, Tiger Brown der Aufführung, hat in Rüsselsheim einer kurzweiligen und äußerst fundierten Einführung in die musikalische Geschichte und Bedeutung des Werkes beigewohnt, bevor er dann auf der Bühne als Tiger gebrüllt, aber vielleicht nicht einer solchen Einführung entsprechend auch gesungen hatte. Im nächtlichen Hotel räsonniert er nach der Vorstellung für sich über der Frage, ob sich das kulturbeflissene Publikum unserer Demokratie je für die so bitter nötige ökonomische Alphabetisierung wird begeistern können. Die Künstler selbst jedenfalls sind auf diesem Gebiete ihrem Publikum weitgehend ähnlich. Werte hat jeder. Wissen nicht. Und Werte sind in unseren Tagen nach der Abwicklung des Sozialismus und der gesellschaftlichen Abkehr von jeglichem Interesse an Utopien oder gar dem Brechtschen Marxismus gründlich aus der Mode gekommen. Die Stadt Rüsselsheim, Standort der Opelwerke, weist dem Besucher am Wochenende eine dörfliche und fast vollkommen leere Innenstadt. Es wird interessant, am Nachmittag vor der Vorstellung etwas zu essen zu finden. Alles ist geschlossen. Noch ein paar internationale Vielwarenläden verstauen. Heimatlose um ein Wettbüro, das aussieht wie eine Zollbehörde. Nicht mal ein Döner auf die schnelle. Als der Mut bereits sinken will, stößt er schließlich und unvermutet auf den Panda-Imbiss, Sushi und Wok. Hier wird mit wenig Deutsch und beredeten Gesten der ganzen Welt zu essen serviert. Afrikaner, Türken, Araber und Asiaten, Deutsche im Anzug, aber auch solche mit selbstgestrickten Pullovern, Autonome, Mädchen im Kopftuch, Kinder und Greise lassen sich riesige Portionen gebratener Nudeln, schmackhafte chinesische und thailändische Karte und ein fabelhaft frisches und großzügig ausgestattetes Sushi schmecken. Die Gespräche werden lebhaft und in den verschiedensten Sprachen geführt. Vielleicht hat Globalisierung so doch noch ihre positiven Aspekte. Vielleicht beginnt an solchen Orten irgendwann ein neuer Ansatz des Fragens und des Wissens, vielleicht entstehen mit den Facebook- und Twitter-Revolutionen neue Diskussionen, vielleicht beginnt die ökonomische Alphabetisierung unser Gesellschaft an ebenso unvermuteter Stelle. Wenn das Theater und sein Publikum nicht sehr gut aufeinander achten, ist es sogar sehr wahrscheinlich, das der Impuls nicht vom Theater ausgehen wird. Und das ist eigentlich schade.

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14. November 2010 / „Gott“ im Emma-Theater Theater Osnabrück

18. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Wir tun drei Sorten von Reisen. Da wären erstens die mit dem Flugzeug, in die USA, den Iran, durch vier Länder Zentralasiens, nach Lateinamerika und noch einmal nach Mexiko, in den Irak, nach Tunesien… Zweitens die mit der Bahn – an- abseits oder der Loreley abgewandt – in alle Länder des deutschen Sprachraums bis in die Schweiz oder nach Österreich.
Und dann gibt es andererseits noch die mit dem Bus.

Gut, der brachte uns einmal nach Frankreich. Sonst allerdings fährt er uns fast ausschließlich durch Nordrhein Westfalen. So oft es geht. Die Häuser kennen wir oft schon seit Jahren. Uns treue Orte, denen wir treu sind. Wir kennen die Fußgängerzonen und das eine Café, in das wir seit Jahren gehen, die eine Stunde bis es Zeit ist für Garderobe und Maske. Wir kennen das schmale, scharf beschnittene Kuchenstück der kurzen Wege, aus einem uns sonst ganz fremden Stadtkosmos geschnitten. Es ist immer das Gleiche und doch immer von neuem überraschend. Genau wie das Publikum.

Osnabrück, die Stadt des Westfälischen Friedens, ist, obschon bereits in Niedersachsen gelegen, einer dieser Orte. Das Theater Osnabrück und das Theater an der Ruhr pflegen eine Theaterpartnerschaft über Austauschgastspiele. Austauschgastspiele waren und sind nicht nur  für die NRW-Theater in den Zeiten knapper werdender Kassen stets ein kreatives Mittel, dem Publikum eine reichere und überraschende Auswahl anzubieten. Zudem sind sie eine schöne Gelegenheit, die eigene Arbeit in einem neuen Kontext frisch zu erfahren. Wir spielen nicht das erste mal in Osnabrück. Das Theater Osnabrück hat auch bereits am Raffelberg gespielt. Die technischen Mannschaften kennen sich und arbeiten gern miteinander. Heute gastieren wir im Emma Theater, dem kleinen Spielort des Theaters Osnabrück, dass im dritten Stock des EMA Gebäudes untergebracht ist.

Die ehemalige Schule aus der Zeit der Jahrhundertwende ist ein besonderer Bau. Die ehemaligen Klassenzimmer sind mit ihrer Höhe an die fünf Meter wahre Säle zu nennen. Das Theater nistet oben in den eigenwilligen Räumen fast wie eine Vogelkolonie an einer Felswand. Eigenwillig klingen Geschichte, Improvisation und Gestaltung zusammen. Die kleine intime Bühne hat Charme.

Ob sie für „Gott“ taugt, ist fraglich. Die freche Komödie von Woody Allen über die Kulturindustrie und ihre nicht nur vom toten Gott sondern auch von allen guten Geistern verlassenen Kulturschaffenden, die dennoch nicht sinnlos als Staubkorn durch die Ewigkeit fliegen wollen, entfaltet sich dann am besten, wenn sie auf einer weiten, nackten und leeren Bühne wie auf einer Eisscholle ausgesetzt stattfindet. Hier, in diesem kleinen Raum, fühlt sie sich ein wenig wie auf eine trashige Sketch – Up – Show reduziert an. Aber sie zu spielen macht ebenso Freude wie es nicht nur den im Publikum auf ihren Auftritt wartenden Kollegen Spaß macht, zuzusehen. Man kann einen Abend tausendmal spielen und tausendmal gesehen haben: gelingt er, wird er immer wieder von neuem überraschen.

Im nächtlichen Bus, schlafend, über einem Buch oder in langen Gesprächen geht es direkt nach der Vorstellung zurück nach Mülheim. Vor dem nächtlichen Fenstern träumt man wie in einem Raumschiff oder einer Taucherglocke. Man weiß ja auch ein paar Stunden lang wo man ist. In NRW. Quasi zuhause.


Rainer Firchov, Rosmarie Brücher



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29. Oktober 2010 / „Die Kunst der Komödie“ in Thun / Schweiz

15. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Es ist wunderschön in Thun!

An der Mündung der Aare zum Thuner See genießt man rundum den Blick auf die Bergwelt des Berner Oberlandes. Das Schloss Thun überragt die Stadt. Ein Teil der Altstadt ist zwischen den Armen der Aare auf einer Insel gelegen. Der Ort ist seit der Jungsteinzeit besiedelt. Der Name Thun kommt aus dem dem Keltischen. Dunum ist der befestigte Ort.

Die Herzöge von Zähringen, deren Regierungstätigkeit bis in den Süden Deutschlands, besonders in Südbaden und Freiburg im Breisgau von großer kultureller Bedeutung war, gründeten die Stadt und erbauten Schloß Thun. Im 19. Jahrhundert wird Thun mit der Gründung einer Militärakademie zu einem wichtigen Rüstungszentrum der Schweiz. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts blüht der Fremdenverkehr. Ab 1835 wird ein regelmäßiger Dampfschiffsverkehr auf dem Thuner See eingerichtet.

Die Kunstgesellschaft Thun e. V.

Die Stadt mit ihren nur zweiundvierzigtausend Einwohnern ist kulturell hoch aktiv. Zunächst hat sie sich einen Namen als Stadt der Kleinkunst geschaffen. Jeweils im April jeden Jahres veranstaltet die Gemeinde einen Markt der kleinsten Theaterproduktionen. Im Mai gibt es ein Gauklerfestival. Am 13. September findet der Kleinkunsttag statt. Für das Sprechtheater engagiert sich die Kunstgesellschaft Thun e.V.

Der Verein bietet seinen Mitgliedern neben zwei Opernfahrten nach Biel und Solthurn nicht weniger als neun Theatergastspiele pro Saison an. Die Theatergastspiele finden in der „Aula Schönau“ in Steffisburg statt. Hinzu kommen Autorenlesungen und Vorträge im Kleintheater „Alte Oele“. Ein Programm im Bereich der Bildenden Kunst gehört ebenso dazu wie eine einmalige jährliche Kulturreise. Der Jahresbeitrag eines Erwachsenen beträgt lediglich vierzig Schweizer Franken.

Etwa eine halbe Stunde Fußweg vor der Stadt gelegen, ist die Aula Schönau in Steffisburg Teil eines größeren modernen Schulkomplexes. Der Raum ist trotz seiner professionell engagierten technischen Mannschaft kein professionelles Theater zu nennen. Er bleibt, was er ist: eine Aula.

An dieser Stelle sind nicht nur die Fähigkeiten sondern auch der unermüdliche Einsatz der Techniker und Beleuchter des Theaters an der Ruhr zu preisen. In nun fast dreißigjähriger Erfahrung geschult, sind sie in solchen Fällen routiniert in der Lage, dem etwas theaterfremden Raum nicht nur das Bühnenbild einzupassen, sondern vielmehr vorher erst einmal ein Theater, dass dieses Bühnenbild tragen, präsentieren und ausleuchten kann. Wir reisen mit umfassendem Equipment, einer großen Lichtanlage und in Vorausberechnungen aller möglichen und unmöglichen Widrigkeiten. In kürzester Zeit wird alles möglich gemacht. Auch hier in Steffisburg gelingt die Wandlung: die Aula Schönau wird ein stimmungsvoller Theaterraum.

Eine Einführung zu Autor und Werk in der Aula, zu Eduardo de Filippo, seiner Biographie und seinen Stücken ist Teil des Abends. Der Vortragende hat den Eindruck eines eleganten, lebendigen und kultivierten Publikums. Alle Altersklassen sind vertreten. In vielen Städten ist das heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Das Durchschnittsalter der Theaterbesucher kann hier und dort durchaus um siebzig Jahre liegen. Das Publikum folgt dem Abend vom ersten Moment an mit Begeisterung und feiert ihn beim Applaus frenetisch.

Bei einem anschließenden Empfang im Foyer der Aula wird die freudige Begeisterung deutlich, mit der die Theaterfreunde für Thun Theater ermöglichen. Zu Baguettes und Getränken geladen, plaudern wir noch länger mit etlichen Damen und Herren, die meisten von ihnen in der Kunstgesellschaft Thun engagiert. Es gibt ein qualifiziertes Interesse an Fragen zur Dramaturgie,  zu allen Aspekten der Bühnenkunst und der Theaterproduktion wie auch zu ihren wirtschaftlichen Voraussetzungen. Viele Mitglieder des Vereins haben begonnen, sich in allen Fachfrage des Theaters zu bilden. Eine Gruppe widmete ihre jährliche Reise einem Besuch der Inthega, der Messe des Gastpielverkaufs. Das Gespräch ist anspruchsvoll. Man muss sich etwas anstrengen.

Unterhalb des Spielzeugmuseums ist das Gasthaus Engel zu finden. Die kleinen, verspielt dekorierten Räume öffnen sich einer fröhlichen Gemeinschaft. Das Käsefondue ist köstlich.

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23. Oktober 2010 / „Die Dreigroschenoper“ in Traunreuth

15. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Von München aus in südöstlicher Richtung der alten Salzstraße folgend, gelangt man nach etwa anderthalb Stunden Fahrzeit kurz vor Salzburg in das Chiemgau, eine der lieblichsten und ältesten Kulturlandschaften Bayerns. Den Chiemsee sehen wir nicht. Wir steigen in Traunstein um. Die alte kunstreiche Stadt mit ihrem besonderen architektonischen Gesicht zwischen Ober- und Unterstadt bleibt abseits vom Weg. Sie war die Kindheitsheimat des österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard. Wir reisen weiter nach Traunreuth.

Giftgas, Bessarabien und Russlanddeutsche.

So alt Traunstein und die umliegenden Gemeinden sind, so jung ist Traunreuth. Die Stadt ist aus den Bunkern und Magazinhäusern der Heeresmunitionsanstalt Muna St. Georgen erwachsen. Im zweiten Weltkrieg wurde hier Giftgas abgefüllt. Nach Kriegsende wurde hier eine Siedlung für Flüchtlinge aus den deutschsprachigen Landschaften Osteuropas, speziell aus Bessarabien gegründet; neue Industrien siedelten sich an, 1950 wurde die Gemeinde offiziell gegründet, 1960 wurden ihr die Stadtrechte verliehen. Noch Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre siedeln zahlreiche Russlanddeutsche in Traunreuth.

Das K1.

Als kleine Stadt von etwa zwanzigtausend Einwohnern erfüllte sich Traunreuth mutig den Wunsch nach ihrem eigenen Kulturzentrum, das zugleich zum zentralen Veranstaltungsraum des gesamten Chiemgaus taugen sollte. Anfang der achtziger Jahre entstanden die ersten Pläne. Immer wieder wurden sie aus finanziellen Gründen verworfen. 2007 beschloss der Stadtrat den Bau. 2008 wurde der Grundstein zu dem Bau in kubischer Form mit großem Veranstaltungssaal und Restauration gelegt, der am 15. Januar 2010 eröffnet wurde. Er erhält den Namen K1. Das Theater an der Ruhr gehört zu den Gästen der ersten Spielzeit.

Neben der städtischen Trägerschaft beeindruckt die Liste der Sponsoren. Die Wirtschaft der Stadt identifiziert sich in hohem Maße mit den kulturellen Bedürfnissen ihrer Bürger. Derartigen politischen und wirtschaftlichen Mut zeigen heutzutage vor allem kleine Gemeinden. Der Hansestadt Hamburg wünschte man in diesen Tagen eine vergleichbare Politik und vergleichbaren Bürgersinn.

Das Modell des Kubusbaus als archtektonisch ökonomischte Form für den Bühnenbau beginnt übrigens Schule zu machen. In Luxemburg spielten wir in einem vergleichbaren Bau – mit ähnlichem Namen.

Unserer sehr gut besuchten Vorstellung der Dreigroschenoper wird begeistert applaudiert. Allerdings hatten wir zunächst um die Gunst eines wachsamen, aber reservierten Publikums zu ringen, die spezielle Theatersprache des Theaters an der Ruhr wird auf das erste mal zunächst als fremd empfunden.

Auf die Dörfer.

Untergebracht sind wir in verschiedenen umliegenden Gemeinden, die meisten der Schauspieler in Traunwalchen, heute ein Teil der Gemeinde Traunreuth. Eine Kirche auf Berg. Fast ringsum auch unter dem schweren Wolkenhimmel der Blick auf bereits beschneite Berge. Der Maibaum. Die Schule. Der Gasthof Springer, in dem wir untergebracht sind, ist ein bayrisches Wirtshaus der alten Art. Nahe bei liegt das Wasserschloss Pertenstein aus dem 13. Jahrhundert. Der Komponist Carl Orff ist dem Ort verbunden. Über einer ausgebauten Remise des Schlosses findet sich die Aufschrift „Orff-Festspielhaus in Spe“. Eine Plakette am Eingang des Gasthofs Springer erinnert an ihn. Das Orrfsche Schulwerk wurde in Traunwalchen wohl besonders gepflegt. Das Schulwerk, sein Weihnachtsspiel, Die Kluge… ist das tatsächlich schon in Vergessenheit geraten?





Bayrischer Kulturdrang

Nichts ungewöhnliches wäre es übrigens für eine bayrische Gemeinde, wenn sie tatsächlich ihr Orff-Festspielhaus realisierte. Mit dem Stolz auf die kulturellen Traditionen gibt es in Bayern und besonders im Chiemgau auch einen Stolz auf die das aktuelle Kulturgeschehen. Fast jedes Dorf hat hier seine Theatertruppe. Eine nahe gelegene Gemeinde hat sogar ein eigenes Filmfestival, die Filmtage Waging.

Nachts um gegen vier erwachen einige von uns durch Gewehrschüsse. Eine Hochzeit steht an. Die Schützen des Ortes gehen am frühen Morgen zwischen drei und vier Uhr zunächst zum Haus der Braut und wecken sie durch Salutschüsse. Sie werden mit Weißwürsten und einer ersten Halbe Bier empfangen. Gegen fünf wird dann ebenfalls der Bräutigam geweckt und ein weiteres Frühstück dieser Art wiederholt. So geht es in den Freudentag, an dem die ganze Gemeinde teilnimmt. Vor der Kirche ist ein Treppentribüne aufgebaut – für Erinnerungsphotos, auf denen ein ganzes Dorf Platz hat.

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Wenn einer eine Reise tut…

14. November 2010 by Rupert Seidl Leave a Comment

Ein früherer Kollege im Ensemble war aus Mexiko an das Theater an der Ruhr gekommen. Er erzählte gerne, dass er in damals, als der Bahnverkehr nach Süden vor allem durch das Rheintal führte, etwa hundert und achtunddreissig mal die Loreley aus dem Zugfenster gesehen habe. Was es bedeuten solle, wusste er mit Heinrich Heine ebenfalls nicht. Diese Pointe beendete seine Erzählung. Dem Theatermenschen gilt die Realität auf der Bühne so viel, dass er stets in Gefahr steht, die Wirklichkeit vor dem Fenster als Konkurrenz zu behandeln. Das muss so sein. Tags wird oft in verdunkelten Räumen geprobt.

Wie wird anderswo Theater möglich?

Wir tun mit dem Theater an der Ruhr unsere Reisen hauptsächlich deswegen, weil wir bereits eine Menge zu erzählen haben. Aber auf uns trifft ebenfalls der viel zitierte Umkehrschluss zu. Nach einer Reise haben wir Neues zu erzählen. Wir erleben Wege und Landschaften, Orte und Städte. Mit nicht Wenigen verbindet uns eine so lange und reiche Geschichte, dass wir nach Erlangen, Istanbul, Landsberg am Lech oder auch Teheran heimkehren wie in ein abgeschlossenes Seitenkapitel unseres Theaterlebens mit seinem eigenen, ganz besonderen Lebenslauf.

Wir haben neue Begegnungen. Wir sehen alte Bekannte wieder, die im Laufe der Jahre zu Freunden werden. Wir erzählen, man erzählt uns etwas. Wir freuen uns auf Entdeckung oder Wiederfinden eines Ausblicks, einer Straße, einer nächtlichen Stadt, eines Restaurants oder eines schon einmal bewohnten Hotels. Vor allem aber freuen wir uns auf die Entdeckung oder Wiederfinden eines neuen oder altbekannten Theaters. Ein Theater ist ein Wunder! Wie kommt es hierher? Wie wird es möglich?

Vom Prachtbau aus dem Rokoko zum Parkplatz. Todo la escala social!

Wir wird und vor allem unter welchen Bedingungen wird Theater möglich gemacht? Und von wem? Mit welchen Motiven? An welchen Orten? In einem glanzvollen Raum voller Prunk, Jugendstil oder Belle Epoque, in einem mächtigen oder winzigen Theaterbau, einer kommunalen Mehrzweckhalle, in einer Schulaula oder gar in einer Sporthalle? In Lateinamerika spielten wir auf einem heiligen Berg in den Anden. In Montenegro stellte sich der Spielort zu unserem Entsetzen als Parkplatz heraus.

Wie konnte die Aufführung unter welchen Umständen gelingen? Ob auf großen Auslandsreisen oder unseren Fahrten durch den deutschsprachigen Raum – die Lösungen der sogenannten Provinz sind oft bedeutend kreativer und anregender als der Materialverschleiß der Metropolen. Wir erinnern uns nicht nur der Orte, Landschaften, Hotels, Restaurant und Besonderheiten: Wir erinnern uns der Theater, der Partner, mit denen uns zahllose Geschichten verbinden. Von all dem zu erzählen lohnt in den Zeiten, in denen das Herz der öffentlichen Kultur der ökonomischen Feigheit geopfert wird.

PS: Ein Besuch im Loreley Besucherzentrum lohnt sehr! Ein witziges, kleines und kluges Museum!

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Zum Geleit

Das Ensemble des Theater an der Ruhr begrüßt Sie herzlich! In laufenden Einträgen, auf Themenseiten und in unseren Kommentaren und Diskussionen laden wir Sie herzlich zur Lektüre, Lob und Widerworten ein. Begleiten Sie uns auf unseren Reisen durch den deutschen Sprachraum, Weltstädte und andere Kontinente - und vor allem durch die stets veränderlichen Landschaften in unseren Theaterköpfen und Bühnenherzen! Viel Freude Ihnen und uns! Gehen Sie ins Theater, wir raten es Ihnen!

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